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Die sogenannte Corona-Krise ist die mit Abstand umfassendste Krise der letzten Jahrzehnte. Während in Europa sonst nur aus Kriegszeiten bekannte, beinahe totale Ausgangssperren nicht einmal die Ausnahme sind (Frankreich, Spanien, Italien, Belgien, England), gibt es auf dem „alten Kontinent“ keinen Staat der nicht etwa über Kontaktbeschränkung und -nachverfolgung massiv in die Bewegungsfreiheit seiner Staatsbürger*Innen eingreift.
Aus ökonomischer Sicht befindet sich die westliche Welt in der schlimmsten Krise seit dem 2. Weltkrieg, nicht einmal vergleichbar mit der weltweiten Finanzkrise von 2008. Dabei sind die steigenden Arbeitslosenzahlen, das stumme Abrutschen großer Teile der Bevölkerung in Richtung und unter die „Armutsgrenze“ nur Vorboten einer sich abzeichnenden allgemeinen Pleite. Auf der anderen Seite profitieren kapitalstarke multinationale Konzerne von der Krise und stellen ihre Anpassungsfähigkeit beeindruckend in Szene. Die über Jahre forcierte Digitalisierung des Kapitalismus bricht in den letzten Monaten, auch mit der Übermacht der Marktführer in alle Bereiche des Lebens durch. Zurück bleiben in klassisch kapitalistischer Manier alljene die sich nicht anpassen können oder wollen.

Sozial und ökonomisch handelt es sich im wahrsten Sinne des Wortes um eine „physische“ Krise. Die Sterilisierung des öffentlichen Raumes, die wir sonst nur aus dystopischen Zukunftsfilmen kennen wird zu einem wünschenswerten Ziel auserkoren. In Chernobyl-Schutzanzügen gekleidete Kolonnen desinfizieren den öffentlichen Raum und lassen den perversen Traum von Reinheit, nicht nur bildlich immer näher rücken. Der „freudsche Versprecher“ vom „social distancing“ wird orwellianisch mit „physical distancing“ übersetzt, verliert aber auch dadurch nicht seine Isolationswirkung. Nachdem HomeOffice zuerst als Anreiz für den*die Einzelne*n beworben wurde, werden mehr als 9 Monate nach dem Beginn der Pandemie in Europa bspw. in Frankreich Strafen für Unternehmen ins Gespräch gebracht, die HomeOffice nicht umsetzen können oder wollen. Das durch ständige Erreichbarkeit schon infizierte Zuhause wird mit der verpflichtenden Heimarbeit endgültig zum kranken Arbeitsplatz. Der Ess- zum Konferenztisch, die Küche zur einsamen Kantine und das Schlafzimmer zum Feldbett auf Montage. Das (vor allem ökonomisch) schon beinah obsolete Konzept von Vater, Mutter Kind erlebt in der erzwungenen Rückbesinnung auf das Wesentliche sein reaktionäres Comeback. Der Rückfall in frühkapitalistische Lebens- und Arbeitsverhältnisse mit modernem Anstrich ist hier mit inbegriffen. Verlierinnen dieses Rollbacks sind besonders die Frauen, die mit dem aufgedrückten HomeOffice und dem Wegfall der Angebote von Kinderbetreuung wieder zwei und mehr Jobs in den gemieteten vier Wänden zu bewerkstelligen haben. Den Launen des, sonst nach der Arbeit In-der-Kneipe-Sitzenden und nun wirklich gar nicht mehr zu gebrauchenden Ehemannes ausgeliefert.

„Monitoring“ und „isolieren“ sind Ausdruck für das verantwortungsvolle Kümmern eines, um seine Staatsbürger*Innen besorgten Staates, der zu vertuschen versucht, dass sein löchrig aufgespanntes „soziales Netz“ im sanitären Notfall nur scheinbar vorbereitet, aber nie wirklich bereit war und wird, sich um alle Menschen zu sorgen. Mehr als zuvor verschleiern soziale die ökonomischen Beweggründe hinter den beschlossenen Maßnahmen, die ihrerseits aber weitreichende soziale Auswirkungen haben. Während bspw. die ökologischen Konsequenzen des Kapitalismus vorrangig in Richtung der Länder des globalen Südens externalisiert wurden, trifft das Paradigma des aufjedenfall abzuwendenden Stillstands der Produktion jetzt auch große Teile der westlichen Gesellschaft. Weniger frontal, weniger brutal, weniger physisch greifbar, sondern vielmehr angepasst an die westliche Erzählung von der Moderne, verpackt als Fortschritt und Ergebnis zahlreicher technischer Errungenschaften – zum Wohle aller.
Somit fällt es leichter die staatliche verordneten Pillen der sozialen Kontrolle zu schlucken. Fast wie bei Huxley, in „A brave new world“, um glücklich zu sein und zu bleiben – das Mantra hier heißt immer häufiger „Bleiben sie gesund!“. Dabei wird aus der freiwilligen Selbstisolation ein Moment des Innehaltens und Reflektierens herbeiphantasiert. Die so oft als erstickend wahrgenommene soziale Realität auf der einen Seite wird sogar zum staatlichen Narrativ, dem das Durchatmen Zuhause und im Kreis der Familie gegenübergestellt wird. Aber nicht etwa die staatlich und gesellschaftlich normative Zwangsjacke, wie emanzipatorische Bewegungen und Akteur*Innen es seit jeher propagieren steht bildlich für die Asphyxie, sondern einzig und allein die Gefahr einer Infektion mit dem Coronavirus.

Politische Entscheidungsträger*Innen propagieren die Verantwortung jedes*jeder Einzelnen für die wieder in den Mittelpunkt gerückte „Volksgesundheit“. Mehr denn je gehören zu diesem „Volk“, der vielbeschworenen nationalen Einheit aber nur jene, die ihr nützlich sind. Der*die Manager*in, der*die durch sein*ihr Einfallsreichtum dafür sorgt, dass sein*ihr Start-Up weiter liefert und dadurch einmal mehr, mit seiner*ihrer Verantwortungsübernahme sein*ihr unverhältnismäßiges Gehalt rechtfertigt. Dann auch diejenigen die das produzieren, das geliefert werden soll – unter Missachtung der eigenen gesundheitlichen Risiken. Genau wie das Krankenhauspersonal, dass zu Beginn der Pandemie ohne Schutzausrüstung und unter widrigsten Bedingungen das staatliche Versagen im Gesundheitswesen und damit diesen selbst aufgefangen hat und dafür mit Applaus um 20 Uhr und jetzt mit noch mehr Überstunden belohnt wird. Dazu gehören zuletzt auch die selbsternannten Aufseher*Innen der neuen Regeln an den Fenstern, in der Supermarktschlange oder auch beim genehmigten Spaziergang – möglichst allein. Denunziation ist die, in den letzten 90 Jahren vorschnell totgesagte, aber nun widerauferstandene kollektive Verantwortung. Dem Volk der Verantwortungsvollen, Tüchtigen, Selbstlosen und Aufmerksamen gegenüber stehen die Menschen mit größeren Problemen als Corona-Infektionszahlen und -geschehen an den (aus gesundheitlichen Gründen) geschlossenen Grenzen – außerhalb der EU. Im Innern sind es die Verantwortungslosen, Arbeitslosen und -unwilligen, den Ernst der Lage für das Volk nicht erkennenden Ignoranten.
Vor allem in Mitteleuropa anachronistisch ist hier die widerentdeckte Sorge um die Großeltern, wenngleich sie bildlich für den allgemein reaktionären Politkurs in neuem Gewand der westlichen Staaten steht. So besteht die Sorge auch hier praktisch im Abstand halten. In der „Schaufenster-Gesundheit“ der vor sich hin vegitierenden Großeltern, die seit Jahren freiwillig und nun, moralisch einwandfrei zu ihrem Schutz nicht besucht werden. Während der Staat mit seinen Kontrollmaßnahmen oft thematisierte paternalistische Züge annimmt, gewinnt das Individuum nur scheinbar an Handlungsspielraum, wenn es in Eigenverantwortung die Risikogruppen schützt, indem es sie ausgrenzt. Die Rücksicht auf die Großeltern und „Schwächsten der Gesellschaft“ ist dementsprechend nur ein trügerisches Alibi für die endgültige Exklusion eben dieser Bevölkerungsgruppen. Und das eben nicht dadurch, dass sie barbarisch aussortiert und vernichtet würden, sondern viel feiner durch ihre Identifikation als gefährdet, d.h. schwach und die nachfolgende Fürsorge durch Ausschluss an jeglicher verbliebener, gesellschaftlicher Teilhabe.

Nachdem die ersten europäischen, je nach Land unterschiedlich strengen Lockdowns eher großen Feldversuchen ähnelten wurden die gesammelten Erkenntnisse ausgewertet und werden die Maßnahmen nun in verfeinerter Form zum Einsatz gebracht. Weil sich Schulschließungen vor allem negativ auf die Produktivität der im HomeOffice eingesperrten Arbeitenden ausgewirkt haben, werden diese nun, mit aller Macht verhindert. Während im Frühling so alarmierend über die Infektionszahlen diskutiert und geschrieben wurde, reichen ein 5-faches der Zahlen nicht, um als systemrelevant erkannte Einrichtungen (Schulen, Kindertagesstätten) zu schließen. Wo bspw. in den USA ganz offen Hunderttausende Tote in Kauf genommen wurden, wird in Europa (zuerst mit Ausnahme Englands) zum Schein darauf geachtet eine „verträgliche“ Abwägung zwischen gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten anzustellen. Bei gleichen Zielen – d.h. dem Erhalt der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit – variieren international die Methoden. Ganz offensichtlich geht es im Hinblick auf dieses Ziel nicht um absolute Zahlen und Ergebnisse, sondern ausschließlich um das verhältnismäßige Abschneiden im Vergleich zur Konkurrenz. 200 000 Tote wie in den USA sind egal, solange es sich um die „Nutzlosen“ handelt und sie sich nicht auf die ökonomische Schlagkraft der Nation auswirken.

Als zu Beginn der Pandemie in Frankreich Stimmen im Regierungsapparat laut wurden, die von der Strategie mehrerer, aufeinanderfolgender Lockdowns sprachen konnten sich nur wenige vorstellen, wie das umsetzbar sein sollte. Die angesprochene Strategie gegen das Coronavirus sollte dafür sorgen die berühmte Infektionskurve immer wieder aufflammen zu lassen, sie dann durch strengste Kontaktbeschränkungen herunter zu drücken und das Gesundheitssystem zu entlasten und so nach und nach die Immunisierung innerhalb der Bevölkerung zu steigern. Mit dem ersten und nun darauffolgenden zweiten Lockdown einher geht eins der größten sozialen Experimente der letzten Jahrzehnte, womöglich sogar Jahrhunderte. Das in den letzten Jahren immer wieder thematisierte „nudging“ (dt. anstupsen), dass besonders in Bezug zu umweltfreundlichem Verhalten und einer gesunden Ernährung zum Einsatz gebracht wurde, ist in den letzten Monaten omnipräsent. Der sogenannte „libertäre Paternalismus“ bricht sich in Astandslinien in und vor Supermärkten, Verhaltensregeln in Gebäuden, aber auch auf öffentlichen Plätzen und mit Durchsagen bahn und erinnert bei jedem Atemzug an die neuen Regeln der physischen Distanzierung. Durch die unsichtbare Gefahr des Virus wird das Gegenüber zur potentiellen Gefahr und eben nicht zu einer*einem Verbündeten. Die Blicke der Anderen belohnen oder sanktionieren das eigene Verhalten im Hinblick auf die neuen sozialen Normen. Staatliche Kontrollinstanzen sind nur noch das ultimative Mittel zur Durchsetzung der „physischen“, aber tatsächlich sozialen Distanzierung. Wie in grauen Vorzeiten werden Nachbar und Nachbarin zu Richter*In und verstärken die Maßnahmen des Staates. Die so internalisierten Verhaltensmuster werden auch über das „Ende der Pandemie“ hinaus, verschwiegende gesellschaftliche Folgen nach sich tragen. Die so oft, glücklicherweise, aber noch wahrgenommene soziale Isolation wird immer mehr zur unhinterfragten Normalität.

Mit einher geht eine allgemeine Offensive gegen Freizeit und das was philosophisch schon viel zu oft zum Thema „Muße“ behandelt wurde. Die massiven und schon langfristigen Schließungen von Kulturangeboten sind nur ein Punkt dieses Angriffs auf das gesellschaftliche Ausdrucksvermögen. Als erstes traf es nicht überraschenderweise den öffentlichen Raum als Versammlungsort derer, die es sich nicht leisten können in Cafés oder Bars zu gehen. Der Verkauf von Alkohol bspw. wurde soweit eingeschränkt, dass die öffentlichen Treffpunkte zuerst weniger, mit dem Lockdown dann so gut wie garnicht mehr besucht wurden. Diskos, Bars und Cafés schlossen dann und schlussendlich auch Museen, Theater, Kinos und mehr oder weniger staatliche Kulturangebote. Alternative Orte des Austauschs, die für sich beanspruchen in Konflikt mit dem Staat zu stehen reihten sich nahezu widerstandslos in die geforderte nationale Einheit ein. Das oft mit ihnen verbundene politische Leben, die Veranstaltungen, Diskussionen oder das gemeinsame Sich-den-Rücken-Stärken, wurden mit all seinen Konsequenzen ins Private verschoben. Dem staatlichen Narrativ von der nun geforderten gegenseitigen Rücksichtnahme und kollektiven Verantwortung konnten besonders linksradikale nichts bis wenig entgegensetzen, geschweige denn ihre eigene Erzählung eben dieser, ihrer Kernthemen für eine breite Öffentlichkeit verständlich machen.

Wenngleich die USA unter Trump oder auch Brasilien unter Bolsonaro, gemäß der Einwohner*Innenzahlen wohl die Epizentren der fantastischsten Verschwörungstheorien um das Coronavirus waren, sind diese auch in Mitteleuropa weit verbreitet. Von einer geplanten Pandemie zur Dezimierung der Weltbevölkerung über das Virus als Vorwand kontrolliert eine Neue Weltordnung einzuführen, bis zu einer Mischung aus diesen und 1000 weiteren Theorien ist für jede*n etwas dabei. Auffällig ist, wie in anderen Texten schon angeführt wurde, dass sich ein weitreichender Kontrollverlust über das eigene Leben im Glauben an höhere, aber eben dunkle weltliche Mächte niederschlägt. Berechtigte Kritik an der staatlichen Struktur, die Überwachungs- und (wie angesprochen) Konditionierungsmaßnahmen durchsetzt tritt hinter einfachen Erklärungmustern individueller Schuld zurück. Darüber hinaus verstärken die, nun nach der Geflüchtetenkrise noch einmal forcierten und medial aufgeblasenen Grenzkontrollen das Gefühl einer „Gefahr von Außen“. Der mutmaßliche Ursprung des Virus in China und das Fingerzeigen auf undisziplinierte Südländer*Innen täuschen darüber hinweg, dass es sich vor allem um einen kapitalistischen Virus handelt, der auch und zuerst einmal mit den Vielflieger*Innen, den Gutverdienenden und eben dem Kapital an sich, um die Welt wanderte. Das auch jetzt schon offensichtlich ist, dass eben die ärmsten und generell prekarisierten Menschen am meisten – auch unter den gesundheitlichen – Folgen leiden, ist nur ein weiterer Punkt der auf die allgemein toxische Struktur hinter der Krise hinweist, Nationalisierungstendenzen bis jetzt aber nicht zu bremsen vermag.
Interessant werden dürften in den nächsten Monaten aber die sich schon jetzt häufenden Ausschreitungen gegen die neusten Corona-Maßnahmen in verschiedensten Ländern. Dabei handelt es sich – wie bei Massenbewegungen üblich – scheinbar um verschiendste Akteur*Innen, von Kleingewerbebetreiber*Innen, über Jugendliche aus den populären Vierteln, bis hin zu organisierteren Leuten aus linken und auch rechtem Spektrum. Während in Italien bspw. besonders das durch die Krise noch weiter zugespitzte ökonomische Elend eine große Rolle spielt, revoltieren in Frankreich Schüler*Innen mit Blockaden gegen ihren fehlenden Schutz vor dem Virus im Allgemeinen und die Lehrbedingungen während der Krise im Speziellen. Zumindest dort gibt es genügend Anknüpfungspunkte und Gelegenheiten des gegenseitigen Austauschs, die von niemandem der*die politisch in die aktuelle Krise intervenieren will, verpasst werden darf.

Wie in diesem Text deutlich geworden sein sollte beschränken sich die Maßnahmen im Zuge der Coronapandemie auch nicht auf einzelne der beleuchteten Felder, sondern stellen das gesamte (Zusammen-)leben in westlichen Gesellschaften in Frage.

von anonym