Während des Anti-Repressions-Kongress in Leipzig und am Montag, den 27. Mai, unter dem Titel „Versammlungsfreiheit entern. Warum wir auch aus Sachsen nach Hamburg zum Rondenbarg-Prozess fahren sollten fahren sollten“ wird in Leipzig darüber diskutiert, dass im Rondenbarg-Prozess ein Urteil fällen könnte, welches Auswirkungen auf weitere Strafverfahren im Kontext von Versammlungen haben könnte, wie z.B. der Kessel am 3. Juni 2023 in Leipzig.
Die Kampagne „Gemeinschaftlicher Widerstand“ fasst die Problematik wie folgt zusammen:
Die Staatsanwaltschaft wirft den Beschuldigten keine eigenständigen Handlungen vor. Mithilfe des Konstrukts der „gemeinschaftlichen Tat“ wird eine Verurteilung ohne konkret individuellen Strafnachweis anvisiert. Es soll die bloße Anwesenheit auf einer Demonstration für solch eine Verurteilung ausreichen. Damit sollen Menschen kriminalisiert werden, die sich an einer Demonstration beteiligt haben. Falls das Gericht den Forderungen der Staatsanwaltschaft folgt und die Betroffenen der Rondenbarg-Verfahren mit Hilfe des Landfriedensbruch-Paragrafen verurteilt, wird die Versammlungsfreiheit und damit das wichtigste Mittel zur politischen Auseinandersetzung im öffentlichen Raum massiv eingeschränkt.
Die Staatsanwaltschaft will die Reform des Landfriedensbruch-Paragrafen 125 aus dem Jahr 1970 wieder umkehren. Vor 1970 war die bloße Anwesenheit in einer „unfriedlichen Versammlung“ strafbar. Heute wird zum Teil die so genannte „psychische Beihilfe“ herangezogen, um Menschen als „Mittäter*in“ zu verurteilen. Diese staatsanwaltliche Konstruktion kam beispielsweise beim G20-Elbchausee-Prozess zur Anwendung – obwohl der Bundesgerichtshof (BGH) in der Vergangenheit mehrfach darauf hinwies, dass die bloße Anwesenheit in einer „gewalttätigen Menge“ für eine Verurteilung wegen Landfriedensbruchs nicht ausreicht, da sonst die Reform des Landfriedensbruch-Paragrafen von 1970 unterlaufen werden würde. 2017 entschied der BGH, jedoch, dass das „ostentative“ Mitmarschieren als Landfriedensbruch bestraft werden könne. Dieses Urteil sollte laut BGH aber auf Hooligan-Gruppen und nicht auf Demonstrationen angewendet werden.
Ausführlicher die Verteidigung: Statements der Anwält*innen am ersten Prozesstag
In der Diskussion in Leipzig fällt jedoch auf, dass ein bereits bestehenden „Präzedenzfall“ eingetreten ist, der aus dem Gedächtnis verschwunden zu sein scheint.
Neonazi-Angriff in Connewitz: Auseinandersetzung zwischen Fußballfans – Versammlung – ostentatives Mitmarschieren – Landfriedensbruch…
Parallel zum Legida-Aufmarsch am 11. Januar 2016 griffen mehr als 250 Neonazis in Connewitz an. Während der Pressesprecher der Polizei Leipzig dies als Angriff von Fußballfans auf den Roten Stern einordnete, erklärte der Verfassungsschutz Sachsen dies im Jahresbericht 2016 als eine „Versammlung“ der „subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene“. Unstrittig ist, dass die Neonazis nach Connewitz kamen um Menschen, Geschäfte und Fahrzeuge zu attackieren. Vorher versuchten sie sich als Demonstration zu tarnen, so wurde in einer Rekonstruktion des Ablauf geschildert:
Es ist kurz nach 19 Uhr als der schwarz-gekleidete Neonazi-Mob hinter einem umgedrehten Banner, welches Anfang Januar von einer Kirche entwendet wurde, auf die Wolfgang-Heinze-Straße einbiegt. Schweigend ziehen sie die Straße hoch, bis eine rote Leuchtkugel über die Straße geschossen wird. Daraufhin schlagen sie, bewaffnet mit Äxten, Steinen und Böllern, auf die Scheiben der umliegenden Geschäfte ein. Raketen fliegen, in eine Kneipe wird Reizgas gesprüht, in einen Döner-Imbiss werfen die Angreifer eine Kugelbombe … Das Banner, dass die Angreifergruppe vor sich trug und ein Aufruf zur Gegendemonstration gegen Legida war, wurde Anfang Januar von einer Kirche in der Leipziger Innenstadt entwendet. Nach den Festnahmen in Connewitz blieb es auf der Straße liegen, wurde nicht kriminaltechnisch untersucht, sondern von Polizeiwägen unbeachtet überfahren. Die Untersuchung hätte eventuell Rückschlüsse auf die Organisatoren ergeben können, die das Banner den Angreifern zur Verfügung stellten.
Von 217 beschuldigten rechten Angreifern sind mittlerweile 209 rechtskräftig wegen schweren Landfriedensbruch verurteilt, darunter auch ein Justizbeamter.
Wohl aus Ermangelung ernsthafter Ermittlungsarbeit der Polizei zum Ablauf des Angriffes und den konkreten Taten der Neonazis, verwies die Staatsanwaltschaft vor Gericht auf das „ostentative Mitmarschieren“.
Die Mehrheit der Beschuldigten gab vor Gericht lediglich als Einlassung an in Connewitz angetroffen worden zu sein. Von den Tätern will in Connewitz keine/r etwas von Angriffen gesehen oder getan haben, maximal hinten im Mob seien sie gewesen, was als absurdes Schauspiel als die „längste letzte Reihe der Welt“ interpretiert wurde. Letztendlich führte ein früh ausgehandelter Deal zwischen den Verfahrensbeteiligten vor Gericht zu recht ähnlichen Urteilen für fast alle Angeklagten in den Prozessen:
Sind über 1300 Verurteilungen wegen schweren Landfriedensbruch zum „Tag X“ in Leipzig zu erwarten?
Obwohl sich alle Beobachter*innen einig sind, dass am 3. Juni 2023 in Leipzig nicht alle 1324 Personen im Kessel an Angriffen auf die Polizei beteiligt waren von den 2000 Menschen, die an der Versammlung teilgenommen haben. Sind auch nach einem Jahr keine Briefe zur Verfahrenseinstellung wegen des Vorwurfs des schweren Landfriedensbruch an die Beschuldigten verschickt worden. Die Polizei kategorisierte bei der Demonstration in der Leipziger Südvorstadt 200 Personen als „gewaltsuchend“ und 300 Personen als „gewaltbereit“ ein. Trotzdem diese Einschätzung eine rein willkürliche ist und nichts darüber aussagt, ob „Straftaten“ von den kategorisierten Personen begangen wurden, sprechen selbst Journalist*innen, die am Tag in Leipzig bei der Demo waren, von nicht mehr als einer zweistelligen Anzahl an Personen, die beispielsweise Gegenstände geworfen haben sollen. Die Behörden erklären jedoch, dass der Großteil der 2000 Menschen sich am schweren Landfriedensbruch wie folgt beteiligt habe:
Der Großteil der Versammlung schloss sich den gewalttätigen und zum Teil vermummten Teilnehmenden an, welche eigenständig in Richtung Andreasstraße zogen und dort Einsatzkräfte und Fahrzeuge angriffen. Dieses Geschehen wurde auch videografisch dokumentiert.
Ob die Staatsanwaltschaft Leipzig wirklich plant die 1324 Personen aus dem Kessel wegen schweren Landfriedensbruch vor Gericht zu bringen und ob es reicht sich angeblich in Richtung Andreasstraße bewegt zu haben, wird sich zeigen. Der befürchtete “Präzedenzfall” wurde jedoch beim Neonazi-Angriff in Connewitz bereits vor Gerichten in Sachsen verhandelt, nicht erst bei den juristischen Auseinandersetzungen nach dem G20-Gipfel in Hamburg.