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IMI-Standpunkt 2024/029

Verhandlungen oder Eskalation?

Der „Siegesplan“ bringt den Ukraine-Krieg an einen Scheideweg

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 17. Oktober 2024

Immer wieder war und ist zu hören, der russische Präsident Wladimir Putin wolle nicht über ein Ende des Ukraine-Krieges verhandeln. Es gehört zu den Eigenarten der derzeitigen Medienlandschaft, dass derlei Behauptungen problemlos jeden Faktencheck passieren, obwohl dies ganz augenscheinlich nicht den Tatsachen entspricht. Schließlich wurde bereits am 28. Februar 2022 mit Verhandlungen zur Beilegung des Krieges begonnen, die einige Zeit auch gute Chancen auf Erfolg gehabt hatten. Auch wenn viele Details noch im Dunkeln liegen, lässt sich doch verlässlich sagen, dass die westlichen Staaten wesentlich zum Scheitern dieses Verhandlungsprozesses beitrugen. Nachdem sich lange wenig tat, ist in jüngster Zeit wieder etwas Bewegung in die Verhandlungsfrage gekommen – und erneut stellt sich die Frage, ob der Westen die sich bietende Gelegenheit ergreifen oder noch weiter eskalieren wird. Die Blaupause für eine weitere Eskalation bis hin zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland legte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit seinem „Siegesplan“ vor, den er am 16. Oktober 2024 der Öffentlichkeit präsentierte.

Istanbuler Kommuniqué  

Die Ende Februar begonnenen Verhandlungen mündeten am 29. März 2022 in ein Rahmendokument (Istanbul-Kommuniqué), das als Orientierung für ein verbindliches Vertragswerk dienen sollte. Das von der ukrainischen Seite verfasste und von Russland akzeptierte Schriftstück enthieltfolgende Kernpunkte: eine ukrainische Neutralität, den Rückzug der russischen Truppen auf den Stand vor dem 24. Februar 2022 sowie die beiderseitige Verpflichtung, strittige Grenzfragen, insbesondere den Status der Krim, in den nächsten 15 Jahren ausschließlich gewaltfrei zu regeln.

Zwar handelte es sich hier um eine wichtige Orientierungshilfe auf dem Weg zu einem unterschriftsreifen Vertragswerk, in trockenen Tüchern war die Sache damit aber noch lange nicht. Wichtige Fragen waren weiter ungeklärt, insbesondere existierte eine große Kluft zwischen der russischen Forderung einer ukrainischen Truppenbegrenzung auf 85.000 Soldat*innen und der ukrainischen Position von 250.000. Dennoch äußerten sich diverse eng mit den Verhandlungen befasste Personen beider Seiten zu diesem Zeitpunkt optimistisch, die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss bringen zu können (siehe ausführlich zum Verhandlungsprozess Samuel Charap / Sergey Radchenko: The Talks That Could Have Ended the War in Ukraine, in: Foreign Affairs, 16.04.2024).

Doch dann brach der Verhandlungsprozess in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Wie der ukrainische Verhandlungsführer Dawyd Arachamija gegenüber der Kyiv Post vom 26. November 2023 einräumte, sei es Russland vor allem um die Neutralität der Ukraine gegangen: „Sie hofften wirklich fast bis zum letzten Moment, dass sie uns zur Unterzeichnung einer solchen Vereinbarung drängen könnten, in der wir eine Neutralität akzeptieren. […] Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, hätten wir – wie es Finnland einst tat – einer Neutralität zugestimmt und uns verpflichtet, nicht der NATO beizutreten. Das war für sie das wichtigste.”

Doch hiergegen formierte sich im Westen zunehmend Widerstand, insbesondere der damalige britische Premier Boris Johnson machte sich (mutmaßlich in Absprache mit Washington) für eine Fortsetzung des Krieges stark (siehe IMI-Standpunkt 2023/047). Am 9. April 2022 soll Boris Johnson laut Arachamija gesagt haben, die Ukraine solle „nichts mit Russland unterzeichnen – lasst uns einfach kämpfen.“ Arachamija widerspricht zwar dem immer wieder erhobenen Vorwurf, die Ukraine hätte den Verhandlungsprozess auf Geheiß des Westens versenkt, aber die mit Johnsons Ansage verbundene westliche Zusage, massenweise Waffen zu liefern, dürfte allein schon wesentlich zum Scheitern der Gespräche beigetragen haben.

Neue Verhandlungsdynamik?

Am 30. September 2022 erklärte Selenskyj im Dekret des Präsidenten der Ukraine Nr. 679/2022 einen Beschluss des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats für gültig, der folgenden Satz beinhaltete: „Der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine hat beschlossen, die Unmöglichkeit festzustellen, Verhandlungen mit dem Präsidenten der Russischen Föderation W. Putin zu führen.“

Über die genaue Auslegung des Dekrets lässt sich womöglich streiten, allerdings ist klar, dass die Ukraine in der Folge Verhandlungen lange ablehnte. Russland habe wiederum spätestens seit September 2023 die Bereitschaft zu einem Waffenstillstand entlang der aktuellen Kampflinie signalisiert, berichtete die New York Times im Dezember 2023 unter Berufung auf mehrere hochrangige russische und amerikanische Quellen. Im April 2024 brachte der damalige russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu laut Spiegel Online erneut die Möglichkeit von Verhandlungen auf Basis der Istanbul-Vereinbarungen ins Spiel: „Schoigu soll nun in dem Telefonat als Ausgangspunkt für einen neuen Dialog die »Friedensinitiative von Istanbul« genannt haben. […] Mögliche künftige Verhandlungen mit der Ukraine könnten auf einem Vorschlag basieren, der während der russisch-ukrainischen Gespräche in Istanbul im März 2022 diskutiert wurde, hieß es aus dem russischen Verteidigungsministerium. Medienberichten zufolge sah der Entwurf damals vor, dass die Ukraine ihren Antrag auf Beitritt zur Nato aufgibt und neutral bleibt.“ Anfang September 2024 äußerte sich Wladimir Putin in dieselbe Richtung: „Wenn es den Wunsch nach Verhandlungen gibt, werden wir uns nicht verweigern“, sagte Putin. „Wir haben dies nie abgelehnt, aber nicht auf der Grundlage einiger kurzlebiger Forderungen, sondern auf der Grundlage der in Istanbul vereinbarten und tatsächlich paraphierten Dokumente.“

Spätestens seit der gescheiterten Offensive im Sommer 2023 geht in der NATO eigentlich niemand mehr davon aus, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen, also Russland aus allen eroberten Gebieten verdrängen kann. Schon im Herbst 2023 gab das Bündnis deshalb die neue Devise „Halten heißt gewinnen“ aus (siehe IMI-Standpunkt 2023/47). Mit den stetigen russischen Gebietsgewinnen im Donbass wird die Lage für die Ukraine immer prekärer, vermutlich liegt es daran, dass in jüngster Zeit wieder vernehmlich lauter über mögliche Verhandlungen nachgedacht wird. Selbst der Ultrahardliner und ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk forderte die Bundesregierung laut Berliner Zeitung vom 6. September 2024 auf, mehr Engagement bei der Suche nach diplomatischen Lösungen im Ukraine-Krieg an den Tag zu legen: „Ganz persönlich glaube ich, dass Bundeskanzler Olaf Scholz kreativ werden und die bestehenden diplomatischen Kanäle Deutschlands nutzen könnte, um auszuloten, ob Gespräche mit Putin sinnvoll wären. Die Bundesrepublik hat ja immer noch eine Botschaft in Moskau. Und die Hauptsache ist, dass wir Ukrainer den Deutschen vertrauen.“ Es herrsche eine „neue Dynamik“, so Melnyk. Ob er damit die russischen Gebietsgewinne im Donbass meint oder etwas anderes, ist unklar: „Gerade deswegen könnten unsere westlichen Verbündeten – vor allem Deutschland – tätig werden und vorsichtig alle Chancen abtasten.“

Diese Aussage ist allein schon aus dem Grund bemerkenswert, weil Melnyk dabei nebenbei einräumt, dass es die Bundesregierung in Sachen Diplomatie bislang an jeglichem Ehrgeiz hat vermissen lassen.

Per Siegesplan in die Eskalation? 

Aktuell scheint es also ein Gelegenheitsfenster für Verhandlungen zu geben, das sich allerdings recht schnell wieder schließen könnte. Genau dies scheint der Zweck des „Siegesplans“ zu sein, den Präsident Wolodymyr Selenskyj am 16. Oktober 2024 offiziell im ukrainischen Parlament vorstellte, nachdem er zuvor bei einer ausführlichen Tour durch westliche Hauptstädte für dessen Umsetzung geworben hatte.

Nachdem es im September 2024 unter anderem auch von der Bundesregierung geheißen hatte, es müsse einen Friedensgipfel unter Beteiligung Russlands geben, scheint Selenskyj mit seinen „Siegesplan“ derlei Bemühungen einen Riegel vorschieben zu wollen. Jedenfalls nannte er die Umsetzung seines Siegesplans als eine Vorbedingungen und „Brücke“ hin zu einem Friedensgipfel.

Der „Siegesplan“ im Einzelnen:

1.) Eine sofortige Einladung zur NATO-Mitgliedschaft:

Er verstehe, dass eine NATO-Mitgliedschaft eine „Sache für die Zukunft, nicht für die Gegenwart“ sei, so Selenskyj. Dennoch erhalte Russland damit ein wichtiges Signal, nämlich dass die Ukraine nach dem Krieg unweigerlich ihren Platz fest verankert in der westlichen Sicherheitsarchitektur einnehmen werde – Russland den Krieg also auch sofort beenden könne. Eine unmittelbare Mitgliedschaft steht allein deshalb schon nicht ernsthaft zur Debatte, weil der NATO-Vertrag dies an die Fähigkeit des entsprechenden Landes knüpft, „zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen.“ Befindet sich ein Land im Krieg, so ist das nach bisher geltender Auffassung definitiv nicht der Fall. Viel schwerer wiegt jedoch, dass nach den Aussagen des ukrainischen Istanbul-Verhandlungsführers Arachamija die ukrainische Neutralität für Russland alleroberste Priorität hat. Wäre ein Kriegsende also gleichbedeutend mit einem sofortigen NATO-Beitritt der Ukraine, würde damit wohl für Russland sogar ein Anreiz geschaffen, die Kampfhandlungen endlos fortzuführen.

2.) Militärische Unterstützung – weitreichende Waffen:

In seiner Rede listete Selenskyj unter diesem Punkt eine Reihe von Aspekten auf, der bei weitem relevanteste dürfte aber die schon länger erhobene Forderung sein, bestehende Beschränkungen für den Einsatz weitreichender Waffen in Russland aufzuheben. Ein solcher Schritt wäre äußerst riskant: Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte  relativ unmissverständlich, dass er dies endgültig als westlichen Kriegseintritt betrachten würde. Als Begründung wies er am 12. September 2024 darauf hin, diese Waffen könnten ohne westliche Aufklärungsdaten nicht betrieben werden. Als „den wichtigsten, den sogar zentralen Punkt“ nannte Putin, dass „nur militärisches NATO-Personal“ die Zielplanung übernehmen könnte. „Deshalb geht es nicht um die Frage, es dem ukrainischen Regime zu erlauben, mit diesen Waffen Schläge in Russland durchzuführen oder nicht. Es geht darum zu entscheiden, ob die NATO-Staaten direkt in den militärischen Konflikt involviert werden oder nicht.“

3.) Die Stationierung eines westlichen nicht-nuklearen Abschreckungspaketes:

Die Ukraine „bietet die Stationierung eines umfassenden strategischen Abschreckungspaketes auf seinem Gebiet an“, heißt es im „Siegesplan“. Hier ist völlig unklar, aus was genau dieses Paket bestehen soll, für Details wird auf einen – allerdings geheimen – Anhang verwiesen. Es gehe aber um Fähigkeiten für eine „zerstörerische Reaktion“ heißt es, was wohl neben Waffensystemen auch eine Stationierung westlicher Soldat*innen einschließen soll – und zwar noch während die Kampfhandlungen im Gange sind. Derart wird diese Passage auch vom militärnahen Blog Augengeradeaus interpretiert: „Zur Abschreckung sollten Elemente einer nicht-nuklearen Abschreckung in der Ukraine stationiert werden – faktisch eine Aufforderung an die NATO, Truppen in der Ukraine zu stationieren. Einzelheiten dazu seien den USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien mitgeteilt worden“

4.) Westliche Erschließung ukrainischer Rohstoffvorkommen:

Weil Selenskyj sich selber darüber im Klaren sein dürfte, dass er den westlichen Staaten angesichts seiner weitreichenden Forderungen auch etwas anbieten muss, macht der „Siegesplan“ die Tür für die Ausbeutung der ukrainischen Rohstoffe weit auf: „ Die Ukraine ist reich an  natürlichen Ressourcen, einschließlich seltener Erden, die Billionen Dollar wert sind. Dazu gehören Uran, Titan, Lithium, Graphit und andere strategische und strategisch wertvolle Ressourcen, die entweder Russland und seinen Verbündeten oder die Ukraine und die demokratische Welt im globalen Wettbewerb stärken werden.“

Schon länger haben Leute wie z.B. der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter die ukrainischen Rohstoffvorkommen im Auge (siehe IMI-Aktuell 2024/022). Auch in einer kürzlich erschienenen Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung wurde der strategische Wert der ukrainischen Rohstoffe ganz ähnlich wie im „Siegesplan“ betont: „Geografisch und aufgrund ihres enormen Rohstoffreichtums ist die Ukraine im Osten Europas von geopolitischer Relevanz. Zugleich stellt sie eine potenzielle geoökonomische Rohstoffbasis für eine Reihe strategischer Schlüsselindustrien Westeuropas dar. Die Erschließung und industrielle Nutzbarmachung des ukrainischen Rohstoffpotenzials liegen im gemeinsamen strategischen Interesse der Europäischen Union und der Ukraine.“

Ob dies aber Anreiz genug ist, um Selenskyj in den ersten drei Punkten entgegenzukommen, darf zumindest bezweifelt werden.

5.) Nach Kriegsende Stationierung ukrainischer Soldaten in westeuropäischen Ländern:

Nach dem Krieg werde die Ukraine über eines der „erfahrensten und größten militärischen Kontingente“ verfügen. Deshalb biete der „Siegesplan“ an, „bestimmte US-Einheiten, die in Europa stationiert sind, durch ukrainische zu ersetzen.“ Es ist einigermaßen schleierhaft, welches Kalkül sich hinter diesem Angebot verbirgt, da sich die Begeisterung der westeuropäischen Adressaten hierfür in engen Grenzen halten dürfte (unabhängig davon, wie die USA darauf reagieren würden).

Die Reaktionen auf den ukrainischen Friedensplan waren insgesamt eher lauwarm – zum Glück, würde doch seine Umsetzung das Risiko eines direkten Krieges zwischen der NATO und Russland noch einmal deutlich vergrößern. Recht unmissverständlich heißt es im „Siegesplan“, Frieden sei erst bei einem vollständigen Rückzug aus sämtlichen von Russland eingenommenen Gebieten (einschließlich der Krim) möglich. Keine der vorgeschlagenen Maßnahmen dürfte aber in der Lage sein, Russland hierzu militärisch zu zwingen – sie würden lediglich den Abnutzungskrieg verlängern und zu weiteren Opfern führen. Die Alternative liegt auf der Hand: die sofortige bedingungslose Aufnahme von Verhandlungen.

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