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Die fetten Jahre sind vorbei: WER HAT DEM WIRD GENOMMEN

  1. Das war ein Fiasko

Der Stachel sitzt tief. Während die Mitte entweder fröhlich „Ängste ernst nimmt“, irritiert über die „dummen Covidioten“ lacht oder ängstlich auf den Abgrund schaut herrscht in der außerparlamentarischen bis radikalen Linken Ratlosigkeit. Seit den Massenprotesten von Coronaleugner*innen, Verschwörungsideolog*innen, Reichsbürger:*nnen und Nazis in Mitte kommt vieles auf den Prüfstand: Wir haben doppelt versagt.

Einerseits, weil wir es zugelassen haben, dass Nazis scharenweise durch Berlin laufen konnten und ihre faschistische Ideologie weiter in die Mitte der Coronaleugner*innenbewegung tragen konnten.

Andererseits weil wir auf die größte soziale Krise des letzten Jahrzehnts zusteuern und verschlafen haben eine eigene wirkungsvolle Erzählung zu entwickeln. Wir haben keine Bewegung und häufig keine Bindung zu den Menschen, die vor allem unter der Krise leiden.

Auch Konzepte von antifaschistischem Gegenprotest stoßen auf Grenzen:

Erstens bestätigen sie bei den Coronaleugner*innen, die noch nicht in Q-Anon abgedriftet sind, ein linkes Feindbild.

Zweitens finden wir uns plötzlich auf einer Seite der Barrikade mit Parteien, die selbst Schuld daran tragen, dass die Krise auf den Rücken der Armen und Marginalisierten stattfindet. Es ist schwierig mit den Jungen Liberalen gegen Nazis zu demonstrieren und gleichzeitig das revolutionäre Projekt voranzutreiben.

Drittens sind solch große rechte Mobilsierungen zumindest in Berlin neu. Statt eingegittert auf einer klaren Route schwammen Nazigruppen im Strom der Coronaleugner*innen durch ganz Mitte. Da sind Blockaden ein kompliziertes und meist wirkungsloses Unterfangen.

So zermürben wir uns immer und immer wieder in Abwehrkämpfen, versinken in Passivität. Es wird uns langfristig nicht helfen, dass wir – wie immer – moralisch im Recht sind. Nur weil wir seitenlang erklären können, dass die Coronaleugner*innen gefährlichen Schwachsinn propagieren und das eigentliche Problem die systemimmanenten Krisentendenzen des Spätkapitalismus sind verändern wir nichts. Wer zu lange Recht hat, ohne dass daraus etwas folgt, hat auch Unrecht. Wenn wir nur Gegenproteste organisieren ohne eine eigene Geschichte zu erzählen und eigene Kämpfe aufzunehmen, werden wir in unser eigenen Bedeutungslosigkeit versinken.

  1. Eine ängstliche Krise

Dabei waren nicht wenige von uns zu Beginn der Coronakrise auch optimistisch. Endlich ein Ausbruch aus dem ganz normalen Wahnsinn. Erinnern wir uns daran zurück, wie wir zum ersten Mal richtig mit unseren Nachbar:innen quatschten. Sie fragten, was sie brauchen oder sie um Unterstützung baten. Überall organisierten wir kleine solidarische Hilfsangebote. Gleichzeitig zeigte der Kapitalismus umso mehr seine hässliche Fratze: Die Reichen erzählten uns in ihrer Instagramstory aus ihrer Villa mit Park, dass wir jetzt alle zu Hause bleiben müssen und wir das „gemeinsam“ schaffen werden, während wir in unsern Löchern den ganzen Tag auf den Hinterhof gucken und darauf warten, dass um 13 Uhr kurz die Sonne reinstrahlt. Die Arbeiter*innen im Verteilzentrum von Amazon hatten ohne echte Hygienevorkehrungen noch mehr zu buckeln (weil liefern lassen ist ja sicherer) während Amazonbesitzer Jeff Bezos endlich die 200 Milliarden Dollar-Marke knackte. In der Krise müssen wir den Gürtel alle enger schnallen, sagten uns die Politiker:innen. In der Krise zeigen sich die Klassenunterschiede noch deutlicher riefen wir und beließen es dabei.

Stattdessen herrschte Angst. Die Zahlen der Infizierten mit Covid19 stiegen und wir zogen uns zurück.Von einer Rebellion blieb überhaupt wenig übrig, als wir dann alleine zuhause saßen und warteten. Und was sollte man auch sonst tun? Ehrlich gesagt waren auch linke Coronaleugnungserzählungen der ersten Stunde wenig überzeugend. Gleichzeitig war uns nicht neu, dass die Herrschenden gezielt Angst als Mittel zur Unterdrückung einsetzen. Sie wirkt auch bei uns: Vorsicht und Sicherheit haben wir als Werte in den letzten Jahren immer mehr verinnerlicht und zuweilen übertreiben wir es damit auch und lähmen uns selbst. Wie aber unterscheiden zwischen berechtigter Sorge und staatlicher Unterdrückung? Es fehlte an einer nicht-staatlichen und staatskritischen Instanz, die in der Lage wäre, die Situation wissenschaftlich einzuschätzen. Aus dem vermeintlich logischen Reflex heraus, auf eine neu entstandene Risikogruppen maximal Rücksicht zu nehmen, wurde versucht die Vorsicht zum Protest zu machen. Es hat nicht geklappt. Wir mussten traurig zusehen, wie wenig Vertrauen wir ineinander und wie viel wir in den Staat gelegt haben. Und wie die Rechten das Feld der Fundamentalopposition erneut einnahmen.

  1. Keine Angst vor Heterogenität

Was können wir nun tun? Warten bis am 03. Oktober wieder Coronaleugner*innen in Konstanz und Berlin demonstrieren? Wir meinen nein. Die Pandemie wird noch lang andauern und die schon begonnene Wirtschaftskrise noch stärker werden. Wenn wir uns darauf beschränken lassen, wie in einem kleinen Onlinespiel vom Bohemian Browser Ballett den Reichstag gegen Nazis zu verteidigen, werden wir keinen Fuß fassen. Stattdessen müssen wir eine linke Position aufmachen zwischen neoliberalem und autoritärem Krisenmanagement des Staates und den neoliberalen rechtsoffenen Protesten der Coronaleugner*innen. Wir müssen ein eigenes Narrativ aufbauen. Eine Erzählung, die alle verstehen und nicht nur PoWi-Studis im 12. Semester. Keine Angst haben vor heterogenen Bewegungen ohne die perfekte Analyse und Kritik.

Wir sehen unzählige Menschen, die mit dem staatlichen Umgang mit Corona unzufrieden sind. Und nein, das sind nicht die 30.000 vom 29. August. Es sind viele mehr, nämlich all jene, die seit jeher unter dem neoliberalen Wahnsinn leiden, und die den nächsten Ausverkauf schon kommen sehen. Es ist das Krankenhauspersonal, die Arbeiter*innen auf den Baustellen der Stadt, in den Fabriken bei Siemens und BMW und den Verteilzentren von Amazon. Es sind unsere Nachbar*innen, die genauso struggeln mit der Miete wie wir. Die Opfer häuslicher, vor allem patriarchaler Gewalt. Die Schüler*innen deren Eltern keine Zeit haben sie zu unterrichten, die Illegalisierten. Die Künstler:innen, die Schein- und ja vielleicht sogar die Kleinselbstständigen. Die Menschen ohne Obdach die nirgends zu Hause bleiben können, weil es ihnen genommen wurde. Es sind auch die, die 2008 vielleicht Hoffnung hatten, dass jetzt mit dem Wahnsinn ein Ende ist. Und die, die 2015 die Ersten waren, die Solidarität praktisch machten. Damals entstanden wie zu Beginn der Coronakrise überall Momente der gegenseitige Hilfe und Solidarität. Doch eine politische Organisierung blieb weitestgehend aus und viele sahen ohnmächtig dem Rechtsruck zu.

All jene waren am 29. August nicht da. Nicht weil sie nicht unzufrieden sind, sondern weil ihnen keine überzeugende Erzählung geboten wird, wie ihre Lage sich ändern könnte. Dabei sind sie sich prinzipiell einig: Nicht wir sondern die Reichen werden die kommende Krise zahlen. Und außerdem muss ab jetzt Schluss sein mit dem Ausverkauf von Gesundheit, Bildung und Wohnraum.

  1. Geschichte wird erzählt

Die Erzählung, die wir brauchen, muss sowohl dem neoliberale Krisenmanagement des Staates als auch den reaktionären, rechtsoffenen Proteste der Coronaleugner*innen Paroli bieten. Sie handelt davon, wie Reichtum anders verteilt werden könnte und besticht dabei mit greifbaren, umsetzbaren Forderungen. Sie erzählt aber auch, wie wir nicht auf die Politiker:innen, die uns vor jeder Wahl aufs Neue Märchen erzählen, warten und hoffen, sondern wie wir mit gegenseitiger Hilfe und Basisorganisation uns selbst helfen können. Schließlich erzählt sie von einem gemeinsamen Ziel, sodass wir bei all den Mühen des Alltags und dem unendlichen Sehnen nach dem Moment, wo sich 'alles ändern' wird, eine Gemeinsamkeit und eine Hoffnung im Hinterkopf bewahren können.

Und wir würden unsererseits nur Märchen erzählen, wenn wir im "hätte, könnte, sollte" verharren würden. Aber die Erzählung, die wir oben beschrieben haben, ist im Grunde schon da. Sie setzt sich zusammen aus den Forderungen und der konkreten Arbeit zweier Berliner Bündnisse:

"Wer hat der gibt" ist noch äußerst jung. Sie wollen die Reichen zur Kasse bitten (Vermögenssteuer, Einmalabgabe). Und da es freundlich vemutlich nicht klappen wird, "wird bald verpflichtet." Sie kämpfen für stärkere Mieter*innenrechte, mehr Kohle für Pfleger:innen, Kassierer:innen und andere systemrelevante Jobs, für eine vernünftige Finanzierung von Gesundheits-, Bildungswesen und dem Sozialsystem. Doch es soll nicht dabei bleiben, dass "die Armen ein bisschen weniger arm werden". Langfristig gehts es nur mit der Vergesellschaftung von Betrieben. Dafür wollen sie am 19. September erstmals in Hamburg, Leipzig, Hannover, Berlin und hoffentlich noch anderen Orten auf die Straße gehen. (werhatdergibt.org)

"Jetzt Erst Recht" ist hingegen schon fast wieder eingeschlafen. Zu viel haben die beteiligten Gruppen mit alltäglicher Basisarbeit zu tun. Die FAU als kämpferische Basisgewerkschaft von Arbeiter*innen, Hände Weg vom Wedding als Vernetzung von Nachbar:innen und als drittes Beispiel die Solidarische Aktion Neukölln als Organisierung von allen, die von Amt, Vermieter:in oder Boss gestresst werden. Regelmäßig standen sie auf Plätzen in Wedding und Neukölln und demonstrierten für eine Vermögenssteuer, für die Enteignung der großen Wohnungsunternehmen, einen Abschiebestopp, 100 % Kurzarbeitergeld, eine Beschränkung der Corona-Sicherheitsmaßnahmen auf die Sinnvollen und vieles mehr. Sie haben die notwendigen Verbindungen zu ganz verschiedenen Menschen, sodass wir hier nicht abstrakt wie Marxprofessoren von Subjekten unserer politischer Hoffnung, sondern von konkreten Menschen, in ihrer realen Situation mit ihren realen Differenzen, reden. (jetzterstrecht.org)

Wer hat der Gibt wiederum versteht es, hoffentlich viele, also auch jene die noch einen Job und ein Dach überm Kopf haben und sich "nicht beklagen können", unter einem Motto zu vereinigen. Dabei sind wir alle antikapitalistisch. Und ja, sie gehen Kompromisse ein indem sie sich mit Reformvorschlägen an den Staat wenden, genauso wie wir einen Kompromiss eingehen, wenn wir die Versagen des Staates durch gegenseitige Hilfe selbst ausbügeln. Aber so kann sich ein Weg abzeichnen zwischen dem Jetzt und jener Zukunft, wo 'alles anders sein wird'. So können wir ein konkretes eigenes Narrativ aufbauen, eine Erzählung die alle verstehen und nicht nur PoWis im 12. Semester. Und ein Narrativ das noch nicht die perfekte Analyse und Kritik gefunden hat, sie vielleicht nie finden kann und gerade deswegen offen ist für die Heterogenität von Bewegungen und Menschen.

  1. Aufruf!

Unser Vorschlag ist also Folgender: Das beste Mittel gegen Faschist:innen ist der Klassenkampf. Wir nehmen ihnen ihre Oppositionsrolle und Aufmerksamkeit am Ehesten, wenn wir unsere eigenen Kämpfe führen. Und gleichzeitig eröffnen wir uns selbst eine revolutionäre Perspektive. Deshalb rufen wir dazu auf, zu den „Wer Hat Der Gibt“-Protesten am 19. September zu kommen! Gleichzeitig betonen wir, dass wir es nicht bei Apellen an den Staat belassen können. Wir können uns nur selbst retten und genauso werden wir selbst enteignen müssen. Deshalb: Wer hat dem wird genommen! Nehmen wir uns die Straße aber vergessen nicht, uns langfristig zu organisieren. Machen wir den Schritt von der gegenseitigen Hilfe hin zu einer radikalen Bewegung. Sorgen wir dafür, dass die Reichen für die Krise zahlen werden und die rechtsoffenen Proteste der Coronaleugner*innen eine Randnotiz in der Geschichte bleiben.

Atopic, September 2020