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Ein Aufruf der Interventionistischen Linken (IL)

 

Banner: "Es gibt keine Solidarität von Rechts", Leipzig, 5.9.22

Ein weiterer Hitzesommer geht, die kalte Jahreszeit kommt. Nach Monaten im Zeichen von Krieg und Klimakrise stehen wir am Beginn einer sozialen und politischen Krise, deren Ausmaße und Folgen noch gar nicht absehbar sind: Explodierende Preise und die Energiekrise bedrohen unseren Alltag und lassen Grundbedürfnisse für Viele unbezahlbar werden; die Regierungsparteien machen Klassenpolitik von oben, die keine Probleme löst, sondern Unternehmen und Reichen weitere Milliardengewinne verschafft; die Rechte steht bereit, um Frustration und Wut für ihre Zwecke zu nutzen und soziale, klimapolitische, feministische und antirassistische Errungenschaften anzugreifen.

In dieser Situation besteht für alle emanzipatorischen Kräfte, alle Bewegungen und alle Spektren der gesellschaftlichen Linken ein unmittelbarer Handlungszwang. Es ist gut, dass dies die Allermeisten auch so sehen: Überall finden Treffen und Zusammenkünfte statt, es wird beraten, geplant und gehandelt. Um gemeinsam schlagkräftig zu werden und den Herrschenden tatsächlich einen »Heißen Herbst« bereiten zu können, müssen wir uns über Einschätzungen und Strategien verständigen. Hierzu im Folgenden drei Thesen von uns als Interventionistische Linke:

1. Krisenkapitalismus trifft Alltag: Die K-Frage stellen!

Egal, wie viel Mühe sich bürgerliche Journalist*innen und Expert*innen geben: Die aktuelle Preis- und Energiekrise lässt sich nicht erklären, ohne über die Dynamiken und Widersprüche des globalen Kapitalismus zu sprechen. Politisch ist dabei nicht entscheidend, welche der vielen Faktoren man am Ende wie gewichtet. Die weltweiten Auswirkungen von Klimakrise, Corona und Ukrainekrieg, die an Profitinteressen und Geopolitik orientierte, fossile Energiepolitik, die Geldpolitik der EZB und die ungelöste Eurokrise, die dramatisch gestiegene soziale Ungleichheit und neokoloniale Ausbeutungsverhältnisse, eng getaktete globale Lieferketten und Nahrungsmittelspekulation auf den Finanzmärkten, der Zugriff profitorientierter Konzerne auf Grundbedürfnisse wie Essen, Wasser, Energie, Wohnen oder Mobilität – all diese und viele weitere Faktoren machen einmal mehr sichtbar, was schon immer richtig war: It's Capitalism, Stupid!

Für die Menschen im Globalen Süden war diese simple Wahrheit immer schon im Alltag spürbar. Und auch jetzt sind es Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika, die am stärksten unter den Auswirkungen steigender Lebensmittel- und Energiepreise zu leiden haben. Vielerorts droht eine beispiellose Hunger-, Schulden- und Staatskrise, die für uns grundlegende Fragen von globaler Solidarität und internationalistischer Haltung aufwerfen wird.

Auch wenn die Situation in Deutschland und Europa eine andere ist, weil mehrheitlich nicht das Leben selbst, sondern eher der Lebensstandard infrage steht: Die Illusion, auf einer Insel der Seligen zu leben, lässt sich auch hierzulande nicht länger aufrecht erhalten. Die Einschläge kommen näher, der Krisenkapitalismus kommt im Alltag an. Nicht mehr nur die Armen und Ausgeschlossenen, sondern auch die Mehrheitsgesellschaft kriegt zu spüren, dass die eigene Art zu Leben brüchig wird. Viele haben das Gefühl, in einer Dauerkrise gefangen zu sein, dystopische Zukunftsszenarien erscheinen realistischer denn je. Zugleich wiederholt sich, was bereits in der Coronakrise sichtbar wurde: Es gibt Menschen, für die all dies keine Rolle spielt, für die es keine Krisen gibt, weil ihr Reichtum, ihr Vermögen und ihr Einfluss sie davor schützen. Dieser kleine Teil der Gesellschaft kann sich und seine Parallelgesellschaft abschotten, in SUVs, unterirdischen Bunkern, auf Inseln oder im Weltall, kann sein luxuriöses Leben ohne Einschränkungen weiterführen, als ob es keine Krisen gäbe – und dabei weiter von eben jenem Kapitalismus profitieren, der diese erst hervorbringt.

All dies macht uns wütend – und ist doch nur ein Vorgeschmack darauf, was uns infolge der eskalierenden Klimakrise noch bevorstehen wird. Daher sollten wir in der aktuellen Krise zuallererst ehrlich sein, zu uns selbst und zu anderen: Solange wir den globalen Kapitalismus nicht überwinden, wird es keine echten Lösungen geben – weder für diese noch für alle weiteren Krisen, die noch kommen werden. Alles, was wir im Hier und Jetzt zu erwarten haben, ist die Abwälzung der Krisenkosten von oben nach unten und von hier nach anderswo. Dem müssen wir uns entgegenstellen, mit allem, was wir haben. Dabei sollten wir darauf bauen, dass aktuell viele Menschen für antikapitalistische Botschaften empfänglich sind – lasst uns diese Situation nutzen, um die K-Frage zu stellen. Let’s choose Communism!

2. Falsche Farbenspiele: Die herrschende Krisenpolitik angreifen!

Wenn die aktuelle Krise nur die jüngste Episode einer immer weiter eskalierenden Krisendynamik des globalen Kapitalismus ist, dann wird es auch für die Herrschenden immer schwieriger, die Krisen ökonomisch und politisch zu bearbeiten. Dementsprechend stoßen alle bisherigen Versuche, die Preis- und Energiekrise durch internationale und europäische Absprachen und Verträge zu lösen, an strukturelle Grenzen – oder führen direkt in einen fossilen und atomaren Rollback, der die Klimakrise weiter anheizt.

In Deutschland, dem Herzen der Bestie, macht die Krise die Funktionsweise der Ampelregierung sichtbar. Mit der FDP in der Regierung und Lindner im Finanzministerium ist eine sozial und ökologisch gerechte, solidarische Krisenpolitik nicht möglich – zu direkt dominieren hier die Interessen von SUV-Fahrern, Reichen und Großkonzernen. Auch wenn es richtig ist, diesen männlichen Neoliberalismus in Reinform zu skandalisieren, wie dies bei Social Media und auf Kundgebungen aktuell geschieht: Es sind SPD und GRÜNE, die der FDP willentlich zu dieser Machtposition verholfen haben und die jetzt jede substanzielle Kritik an Lindners Blockadehaltung dem Koalitionsfrieden unterordnen. Dies ist nicht Zufall oder Naivität, sondern Ausdruck der gesellschaftlichen Funktion dieses Regierungsprojektes. Die Ampel wollte nie den Horizont einer sozial-ökologischen Transformation eröffnen. SPD, GRÜNE und FDP eint vielmehr der gemeinsame Wunsch nach einer Modernisierung des Modell Deutschlands in der europäischen und globalen Konkurrenz – damit letztlich alles so bleiben kann, wie es ist.

Dieser Zugang prägt auch die bisherige Krisenpolitik der Ampel: sozialpolitische Maßnahmen, die vor allem auf die »Entlastung der Mittelschichten« – und zum Teil sogar der Reichen – setzen, ohne gezielt die steigenden Lebensmittelpreise, die autoritäre Absenkung der Wohnungstemperatur durch Vonovia & Co., Energiesperren, Zwangsräumungen und Massenverarmung zu stoppen; milliardenschwere Geschenke für profitorientierte (Energie-)Unternehmen wie RWE, Uniper, Shell & Co., die direkt in den Taschen von Aktionär*innen und Investoren landen; eine klimapolitische Geisterbahnfahrt, in der klimaschädliches (Flüssig-)Gas als moderne Lösung präsentiert, der Atomausstieg infrage gestellt und die notwendige Energie- und Verkehrswende blockiert wird. Hinzu kommt eine doppelte ideologische Anrufung, die wir schon aus der Coronakrise kennen: zum einen der neoliberale Appell an Eigenverantwortlichkeit und Verzicht als Ersatz für hinreichende politische Maßnahmen – die zynischen Energiesparstipps zu kurzem Duschen (Robert Habeck) oder der Nutzung des Waschlappens (Winfried Kretschmann) –, zusätzlich verstärkt durch die Anrufung der nationalen Schicksalsgemeinschaft im Angesicht des Ukrainekriegs, d.h. »Frieren für die Freiheit« (Ex-Bundespräsident Gauck); zum anderen das Gerede vom »sozialen Sprengstoff« (Bundeskanzler Scholz) und die Warnung, »Extremisten aus dem linken und rechten Lager«, könnten mögliche Sozialproteste für sich »instrumentalisieren« (Innenministerin Faeser) – verbunden mit dem Apell an die »demokratische Mitte«, eine solche politischen Destabilisierung des Landes durch möglichst klagloses Tragen der Krisenlasten zu verhindern. Statt also rechte und verschwörungstheoretische Mobilisierungen explizit zu benennen und zu bekämpfen, wird jede Form von Kritik und Protest an der herrschenden Krisenpolitik von vornherein als undemokratisch und »extremistisch« gebrandmarkt und damit zu delegitimieren versucht.

Auch wenn es also durchaus taktische Gründe geben mag, die weit geteilte Ablehnung gegen die FDP und Lindner für kurzfristige Mobilisierungen zu nutzen: Politisch ist es unbedingt notwendig, die herrschende Krisenpolitik insgesamt anzugreifen, egal welche Farbe sie hat. Dies gilt umso mehr, als angesichts der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und des inneren Zustands von SPD, GRÜNEN und LINKEN aktuell keinerlei Aussicht auf eine linksreformistische Wende in der Krisenpolitik besteht. Auch diesmal wird uns also kein Staat und kein höh'res Wesen retten. Wir müssen alles selber machen!

3. Neue Sozialproteste: Den Kampf um die Barrikade gewinnen!

Noch ist nicht absehbar, wie die Preis- und Energiekrise die nächsten Monate – und vielleicht sogar Jahre – im Detail ablaufen wird. Schon jetzt aber ist klar: Es droht das größte Verarmungsprogramm seit Hartz 4. Betroffen sind zuallererst diejenigen, die in dieser kapitalistischen, durch Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und Ableismus strukturierten Gesellschaft immer zuerst die Zeche zahlen. Die Krise der Reproduktion und die Gewaltverhältnisse werden sich weiter verschärfen, im privaten Nahbereich und auf der Straße, wo wir schon jetzt fast täglich einen neuen Fall brutaler Polizeigewalt erleben. Zusätzlich droht eine neue Welle von Sozialchauvinismus, Militarisierung und tödlicher Abschottungspolitik, wenn eine globale Hungerkrise auf die Grenzen der Festung Europa trifft.

All dies zeigt drastisch, warum es den Herrschenden nicht gelingen darf, ihre Krisenpolitik durchzusetzen. Dabei geht es auch um die mittelfristigen Auswirkungen auf die politischen Kräfteverhältnisse: Bleibt dieser Angriff auf den Lebensstandard und auf die Idee unteilbarer Solidarität unbeantwortet, haben reaktionäre Positionen auch anderswo freie Fahrt – allen voran beim Klimaschutz, der unter dem Eindruck der aktuellen Krise erneut gegen die soziale Frage ausgespielt wird und massiv unter Druck gerät. Darin zeigt sich die reale Gefahr, dass die politische Rechte die Situation zu ihren Gunsten nutzen kann. Schon längst versuchen AfD, Corona-Leugner und militante Neonazis Angebote zu schaffen, um den vorhandenen Unmut für ihr politisches Projekt zu nutzen. Ob es tatsächlich zu dem herbeigewünschten »Deutschen Wutwinter« kommt, ist aktuell indes unklar. Das gilt auch für die grundsätzliche Frage, ob, in welcher Form und mit welchen Subjektivitäten es in Deutschland in der Krise überhaupt zu breiteren Sozialprotesten kommt – oder ob das Versprechen von Stabilität und die Erfahrung der sozialdemokratischen Krisenbearbeitung der letzten Jahre (Stichwort Kurzarbeitergeld) einmal mehr über die berechtigte Empörung und Wut triumphieren werden.

Die Situation ist also offen. Aber wenn gegen die Krisenpolitik von oben nur massive Sozialproteste von unten helfen und wenn gleichzeitig verhindert werden muss, dass diese von rechts vereinnahmt werden, dann liegt unsere Aufgabe für die nächsten Monate klar auf dem Tisch: Wir müssen Protest und Widerstand gegen die herrschende Krisenpolitik unterstützen und selbst organisieren, alltagsnah, handlungsschnell und entschlossen. Statt kommentierend und moralisierend an der Seite zu stehen, müssen wir im Handgemenge agieren, um Deutungshoheit ringen, Konflikte führen und Widersprüche aushalten – und dort kompromisslos  sein,  wo  es  notwendig  ist:  Verschwörungstheorien  erklären  nichts, Klimaschutz ist notwendig, Putin führt einen Angriffskrieg, Faschismus ist keine Meinung und Nazis kriegen aufs Maul, darüber verhandeln wir nicht. Diese Klarheit unterscheidet uns von selbsternannten Querdenkern aller Art, die politisch isoliert, aber gefährlich bleiben. Auch in diesem Ringen um Deutungshoheit gilt: Am Ende entscheidet die Straße!

Höchste Zeit also, wirklich überall in die Gänge zu kommen und dem nachspüren, was sich da möglicherweise zusammenbraut. Statt dabei verschiedene politische Formen gegeneinander auszuspielen, müssen wir diese zusammenzudenken: Von praktischer Solidarität im Alltag, dem niedrigschwelligen Nachbarschaftsfrühstück oder dem Infostand im Stadtteil über wiederkehrende Kundgebungen und breit mobilisierte Demos bis zu aktivistischen und militanten Aktionen gegen die herrschende Krisenpolitik und ihre Profiteure sowie internationale Vernetzung und Zusammenarbeit – wir werden all das und vieles mehr brauchen, um tatsächlich zu gewinnen. Anknüpfungspunkte an bestehende soziale Kämpfe und Bewegungen sowie Möglichkeiten, diese miteinander zu verbinden, gibt es dabei genug: Der Protest gegen Militarisierung, Krieg und das 100-Milliarden-Aufrüstungspaket, die verschiedenen Arbeitskämpfe und Streiks der letzten Monate, #IchBinArmutsbetroffen, die Krankenhaus- und Mietenbewegung, die ganze Breite der Klimagerechtigkeitsbewegung und vieles mehr. Neben konkreten Abwehrkämpfen und Forderungen zum Schutz der Menschen vor den unmittelbaren Krisenfolgen – wie etwa nach einem Preis- und Mietendeckel – ist es dabei zentral, grundlegende Fragen von Eigentum und Demokratie in den Mittelpunkt zu rücken. Mit der Enteignung und Vergesellschaftung großer, profitorientierter Konzerne im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge existiert eine Richtungsforderung, die in Initiativen wie »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«, »Hamburg enteignet« oder »RWE & Co enteignen« längst zur konkreten Praxis geworden ist. Diese Initiativen weiter zu unterstützen, sie zu verbreitern und in weitere Sektoren – wie Gesundheit und Mobilität – auszuweiten, ist eine der zentralen strategischen Aufgaben in der Krise. Sie wird in der Vergesellschaftungskonferenz vom 7.–9. Oktober in Berlin einen wichtigen Kristallisationspunkt finden.

Es ist also viel zu tun in den nächsten Monaten. Gleichermaßen Wärmetonne und Brandbeschleuniger zu sein, wird nicht einfach werden. Wir sollten es wagen. Nicht nur für andere, sondern auch für uns selbst. Sonst wird der Winter verdammt kalt und lang. Lasst uns damit beginnen, Feuer zu machen!

Interventionistische Linke, Anfang September 2022