09. Oktober 2025
In Nordostsyrien spitzt sich die Lage zu

Milizen greifen an, politische Gespräche stocken.
Im Interview warnt Salih Muslim vor türkischen Einflussoperationen und erklärt, warum das 10.-März-Abkommen an gezielter Sabotage zu scheitern droht.
Während es an den Kontaktlinien zwischen der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) und den von der syrischen Übergangsregierung kontrollierten Gebieten vermehrt zu Angriffen und Gefechten kommt, intensivieren auch Zellen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) ihre Angriffe. Der kurdische Politiker Salih Muslim, Mitglied des Exekutivrats der PYD, analysiert im Gespräch mit ANF die aktuelle militärische und politische Lage in Syrien – mit besonderem Blick auf die Autonomiegebiete, die Interessen internationaler Akteure sowie die Strategien regionaler Staaten.
Muslim kritisiert die wachsenden Drohungen und Druckversuche durch die Türkei und die selbsternannte Regierung in Damaskus. Deren Forderung, die DAANES solle ihre Waffen abgeben und sich dem Staatsapparat unterwerfen, lehne man ab, betont er. Auch die Zunahme der Angriffe durch türkeitreue SNA-Milizen sowie durch Islamisten von „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) sei Ausdruck eines koordinierten Vorgehens. Muslim wirft der syrischen Staatsführung vor, die Vereinbarungen des 10.-März-Abkommens zu missachten. Ein geplantes Abkommen in Paris unter internationaler Aufsicht sei auf Druck der Türkei gescheitert. Angesichts der zunehmenden Bedrohungslage betont er die Entschlossenheit der Selbstverwaltung, geeignete Maßnahmen zur Verteidigung zu ergreifen.
Herr Muslim, in Dair Hafir kam es jüngst zu Angriffen auf die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und zivile Siedlungsgebiete. In Deir ez-Zor intensiviert der IS in Gebieten unter HTS-Kontrolle seine Aktivitäten. Gleichzeitig hat die sogenannte Übergangsregierung den Verkehrsweg zwischen Aleppo und Raqqa gesperrt. Was sind die Hintergründe dieser Entwicklungen?
Die Übergangsregierung verfolgt seit Langem bestimmte Pläne – ebenso wie die Kräfte, die sie überhaupt erst ins Amt gebracht haben. Um ihr internationale Legitimität zu verschaffen, hat man sie bei den Vereinten Nationen sprechen lassen und sie offiziell empfangen. Das Ziel ist klar: Man will uns in diese Übergangsregierung integrieren und sie dadurch stärken. Man verlangt von uns, dass wir unsere Waffen abgeben, uns dem Militär anschließen und Teil des Staates werden – unter massivem Druck.
Einige ihrer Ziele überschneiden sich mit denen des türkischen Staates. Die Türkei wiederum nutzt genau diese Strukturen, um Druck auf uns auszuüben. Es gibt Gruppen, die direkt von Ankara gesteuert werden – etwa die sogenannte „Syrische Nationalarmee“ (SNA). Diese Milizen haben uns über vier Monate (November 2024 bis März 2025, Anm. d. Ü.) hinweg ununterbrochen angegriffen, um nach Osten vorzudringen. Sie sind damit gescheitert. Danach kam es zum 10.-März-Abkommen. Seitdem vermitteln die USA und die internationale Anti-IS-Koalition, und es konnte ein Waffenstillstand erzielt werden.
Trotzdem scheint das Abkommen nicht umgesetzt zu werden. Was läuft schief?
Man will sich von diesem Abkommen wieder lösen – verschleppt die Umsetzung, ignoriert die Inhalte und erfüllt keine der vereinbarten Bedingungen. Gemeinsam mit der Türkei versucht man, uns unter Druck zu setzen und uns hinters Licht zu führen. Aber das wird nicht funktionieren – wir haben ein stabiles System, das Bestand hat.
Ein weiterer zentraler Punkt ist das Öl. In Deir ez-Zor gibt es bedeutende Vorkommen, die man sich aneignen will. Unsere Kräfte leisten dort entschlossenen Widerstand. Gleichzeitig droht die Türkei regelmäßig – und darauf folgen oft Angriffe durch IS-Zellen. Mit all dem sind wir täglich konfrontiert. Zuletzt wurde erneut Dair Hafir angegriffen, dabei wurden einige unserer Kämpfer:innen verletzt.
Man versucht, uns durch ständigen Druck zu zermürben. Und die internationale Gemeinschaft – einschließlich der USA – sieht das, schweigt aber. Denn an diesen Druckkampagnen ist die Türkei beteiligt, und niemand will Ankara verärgern. Das Ziel ist, uns in die Knie zu zwingen. Aber wir leisten Widerstand.
Wie ist der Stand der Gespräche zwischen der nordostsyrischen Selbstverwaltung und der Übergangsregierung auf Basis des 10.-März-Abkommens? Wo liegen die Blockaden? Und wie unterscheiden sich die Vorstellungen zur Dezentralisierung und Integration?
Das Abkommen besteht aus acht Punkten. Damals wurde vereinbart, für jeden dieser Punkte ein eigenes Komitee einzurichten. Themen sollten unter anderem sein: Wie wird das neue Syrien aussehen? Diktatur, Republik oder Demokratie? Wie wird die Macht verteilt? Wie werden die QSD eingebunden?
Wichtig ist: Als Mazlum Abdi das Abkommen unterzeichnete, tat er das nicht im eigenen Namen. Er handelte im Namen der Autonomieverwaltung, des Demokratischen Syrienrats und der Demokratischen Kräfte Syriens. All diese Akteure hatten sich vorher abgestimmt und den Kurs gemeinsam festgelegt. Doch kaum war das Abkommen unterschrieben, begann die andere Seite, sich wieder davon zu distanzieren. Die versprochenen Komitees wurden nie gebildet, ernsthafte Diskussionen blieben aus.
Geplant war auch eine Verhandlungsrunde in Paris unter internationaler Aufsicht. Was ist daraus geworden?
Diese Verhandlungen sollten unter Aufsicht internationaler Akteure wie den USA, Frankreich und Großbritannien stattfinden. Doch sie wurden blockiert – offenbar auf Druck der Türkei. Denn eine solche Konferenz hätte die syrische Frage auf die internationale Bühne gehoben. Das wollte man offenbar verhindern.
Stattdessen heißt es nun: „Wir sprechen nur in Damaskus.“ Die Türkei stellt sich klar gegen das Abkommen. Deshalb kommt es höchstens zu technischen Treffen, während zentrale politische Fragen gar nicht erst verhandelt werden. Man versucht, uns mit der Botschaft zu demütigen: „Ihr habt verloren – und wir haben die Türkei und die USA hinter uns.“
In der Türkei laufen derzeit Gespräche über eine mögliche Lösung der kurdischen Frage. Hat das Auswirkungen auf die Situation in Rojava?
Natürlich. In der Türkei und in Nordkurdistan gibt es derzeit einen Prozess zur Lösung der kurdischen Frage. Jüngsten Umfragen zufolge unterstützen rund 75 Prozent der Bevölkerung diesen Weg – sowohl Kurd:innen als auch Türk:innen. Doch es gibt Kräfte, die diesen Prozess sabotieren wollen – und zwar, indem sie gezielt Unruhen in Rojava provozieren.
Man kann nicht Kobanê bombardieren und gleichzeitig in Amed über Frieden sprechen. Wenn es Frieden geben soll, dann überall. Abdullah Öcalan hat es deutlich gesagt: „Rojava ist unsere rote Linie.“ Aber manche Akteure wollen hier im Westen gezielt einen Konflikt provozieren, um den Friedensprozess im Norden zu untergraben. Sie wollen einen Krieg in Rojava entfachen.
Es wurde viel diskutiert – aber es gab keine Fortschritte. Manche sagten, in einem Jahr könne eine Lösung gefunden werden. Doch wenn es so weitergeht, wird auch in einem Jahr nichts erreicht sein. Ohne Einigung kann das 10.-März-Abkommen nicht umgesetzt werden. Es ist nicht nur für unsere Gebiete gedacht, sondern für ganz Syrien. Deshalb gibt es so viele Blockaden.
Sowohl die Türkei als auch Abu Mohammed al-Dschaulani – alias Ahmed al-Scharaa – behaupten, die QSD und die Selbstverwaltung würden weder die arabische Bevölkerung noch die Mehrheit der Kurd:innen repräsentieren. Gleichzeitig gibt es Kontakte zum Kurdischen Nationalrat (ENKS). Wie bewerten Sie diese Aussagen?
Man behauptet, die QSD verträten nicht die Kurd:innen, weil viele ihrer Mitglieder Araber:innen seien. Ja, das stimmt teilweise – vielleicht ist etwa die Hälfte der QSD arabisch. Aber die QSD sind ein multiethnisches Bündnis: Kurd:innen, Araber:innen, Assyrer:innen, Armenier:innen – sie alle sind Teil davon. Was sie vereint, ist das gemeinsame Projekt der Autonomie.
Es sind also nicht nur die Kurd:innen, die Autonomie wollen – auch die anderen Völker fordern sie. Die Kurd:innen haben das Projekt angestoßen, aber in Städten wie Deir ez-Zor und Raqqa gibt es zivile und militärische Räte, in denen ausschließlich lokale Vertreter:innen sitzen – die Kinder und Angehörigen der dortigen Bevölkerung. Bei den letzten Angriffen in Deir ez-Zor waren es vor allem arabische Kämpfer, die ihr Leben verloren haben.
Als Mazlum Abdi das 10.-März-Abkommen unterzeichnete, war das kein rein militärischer Schritt der QSD. Es war ein gemeinsamer politischer Beschluss – getragen von der Selbstverwaltung, dem Demokratischen Syrienrat und allen angeschlossenen Parteien und Institutionen. Mazlum Abdi handelte mit ihrer Zustimmung.
Die QSD sind also Teil dieses Prozesses – aber eben nur ein Teil. Zu sagen, sie „repräsentieren die Kurd:innen nicht“, ist schlicht Unsinn. Der Vereinigte Kurdische Kongress hat sie beauftragt – das ist eine legitime Repräsentation. Wer das nicht anerkennt, sucht nur nach Vorwänden. Und wer Ausreden sucht, wird immer welche finden.
Bei der 80. Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen wurde auch die Lage in Syrien thematisiert. Beobachter:innen berichten, Dschaulani werde zunehmend international legitimiert. Welche Folgen hätte das für die Region – und wie verlaufen die aktuellen Gespräche der Selbstverwaltung in Europa?
Was haben die Vereinten Nationen jemals wirklich gelöst, dass sie nun ausgerechnet die Probleme Syriens lösen sollten?
Dschaulani nutzte seinen Auftritt dort, um eigene Propaganda zu verbreiten. Er forderte Hilfe, das Ende der Sanktionen und stellte sich als Alternative für Syrien dar. Doch faktisch hat sich nichts verändert. Man hat ihn öffentlich aufgewertet – so wie Erdoğan ihm bereits auf regionaler Ebene Legitimität verschafft hat, verleiht man ihm nun auch auf internationalem Parkett Ansehen.
Aber echte Legitimität bezieht sich nicht von außen – sondern vom eigenen Volk. Eine Regierung braucht Unterstützung durch die eigene Bevölkerung, nicht durch fremde Staaten. Und Dschaulani hat diese Unterstützung nicht. Niemand im Land betrachtet ihn als legitimen Vertreter.
Deshalb sage ich ganz klar: Es hat sich nichts verändert. Die Erklärungen und Entscheidungen der Vereinten Nationen sind wirkungslos. Sie sind Worte ohne Konsequenzen.
Der US-Sondergesandte für Syrien, Tom Barrack, hatte im Juli die Formel „ein Land, ein Volk, eine Armee“ für Syrien betont und sich gegen föderale oder dezentralisierte Lösungsmodelle ausgesprochen – relativierte diese Aussagen aber später. Wie bewerten Sie seine Äußerungen und die Absetzung seines alten Teams? Gibt es Unterschiede zwischen dem Pentagon, dem US-Kongress und der Trump-Regierung, was die Haltung zu Rojava betrifft?
Tom Barrack ist weder Politiker noch Diplomat – er stammt aus der Geschäftswelt. Seine ursprünglichen Aussagen wie „eine Sprache, ein Volk, eine Flagge“ richteten sich offenbar an bestimmte konservative Kreise. Doch als der öffentliche Druck – sowohl innerhalb der USA als auch international – zunahm, hat er seine Position abgeschwächt. Dann hieß es plötzlich: Auch andere Modelle, etwa Formen von Autonomie, seien denkbar.
In den USA gibt es viele, die uns unterstützen – nicht nur klassische Lobbys, sondern auch aufrichtige Menschen mit einem politischen Gewissen, die unser Projekt für richtig halten. Natürlich gibt es auch organisierte Gruppen, die uns helfen. Der Druck auf Barrack war so groß, dass er seine Rhetorik ändern musste.
Mit dem Pentagon arbeiten wir nun seit über zehn Jahren eng zusammen – wir stehen auf derselben Seite der Front. Auf praktischer Ebene hat sich daraus ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Aber auf politischer Ebene – insbesondere wegen NATO-Interessen – sieht es anders aus. Das betrifft nicht nur uns, sondern auch andere Konflikte in der Region, etwa Palästina oder die Ukraine.
Was Donald Trump betrifft: Niemand kann vorhersagen, was er als Nächstes tun oder sagen wird. Wie schon 2019 könnte er plötzlich Erdoğan freie Hand geben. Das ist keineswegs ausgeschlossen. Wir müssen daher wachsam bleiben und unsere Verteidigung sichern. Es ist ein kritischer Moment – und das müssen wir auch als solchen erkennen.
Wie sind die aktuellen Drohungen aus der Türkei zu bewerten?
Die Türkei versucht, mit aggressiver Außenpolitik von internen Problemen abzulenken – und so die öffentliche Meinung im eigenen Land zu beeinflussen. Gleichzeitig betrachtet sie die sogenannte Dschaulani-Regierung in Idlib als Chance, sich in Syrien neuen Raum zu schaffen. Es ist ein Konkurrenzkampf, auch mit Israel, um Einflussgebiete.
Die Drohungen aus der Türkei kommen von höchster Stelle – vom Präsidenten, dem Verteidigungsminister, dem Generalstabschef. Wenn solche Aussagen wiederholt werden, müssen wir sie ernst nehmen. Natürlich hoffen wir, dass diese Eskalationen verhindert werden – aber wenn nicht, müssen wir vorbereitet sein. Wir haben keine andere Wahl, als Vorsorge zu treffen.
Was sind aus Ihrer Sicht die Grundlagen für den Aufbau eines demokratischen Syriens? Welche Rolle sollten Minderheiten wie Drus:innen, Alawit:innen oder Kurd:innen spielen – und was gehört in eine künftige Verfassung?
Wenn Syrien wirklich einen Neuanfang will, dann muss dieser mit einer demokratischen Verfassung beginnen. Es braucht eine Verfassung, die alle gesellschaftlichen Gruppen anerkennt – und die grundlegende Rechte wie Sprache, Kultur, Glaubensfreiheit und das Zusammenleben garantiert.
Das System, das wir in der Demokratischen Selbstverwaltung aufgebaut haben, könnte als Modell für ganz Syrien dienen. Aber dafür müssen wir bei der Verfassung anfangen. Es braucht faire Wahlgesetze, klare Regelungen für Parteien und umfassende Freiheitsrechte.
Minderheiten wie Alawit:innen, Drus:innen, Ezid:innen oder Suryoye müssen sowohl in ihrer religiösen als auch in ihrer ethnischen Identität anerkannt werden. Wenn man eine dieser Dimensionen ignoriert, schafft man neue Konflikte. Deshalb müssen alle an einem Tisch zusammenkommen, offen diskutieren und – wenn es keine äußeren Einmischungen gibt – einen gemeinsamen Nenner finden.
Bisher fehlt dieser Prozess. Aus unserer Sicht ist ein dezentralisiertes Regierungssystem ein realistischer und gangbarer Weg. Eine ernsthafte, inklusive Debatte über die Zukunft Syriens ist dringend nötig und liegt im Interesse aller.
Hinweis: Das Gespräch mit Salih Muslim wurde vor den jüngsten Angriffen syrischer Regierungstruppen gegen die kurdischen Stadtteile von Aleppo geführt.
@anf






