Gaza: „Eine extreme Militarisierung des Klassenkriegs in Israel-Palästina“
Ein Interview mit Emilio Minassian zur fast völlig ausgeblendeten materialistischen Analyse dessen was sich in den letzten Monaten in Israel/Palästina zuträgt. Ein notwendiger Kontrapunkt zu all der völkischen und moralischen Begriffslosigkeit die sich in der Linken, hierzulande, aber auch weltweit, breit gemacht hat. Und ein Versuch auf der Höhe der Zeit einen Klassenstandpunkt zu entwickeln, jenseits des historisch völlig überholten Gestammels von „antikolonialen Kämpfen“, das der Gegenwärtigkeit Jahrzehnte hinterherhinkt. Deshalb also der Versuch, solche Positionen in die Debatte einzubringen, weshalb wir die ursprünglich auf Bonustracks erschienene Übersetzung hier posten.
Frage: Du interessierst dich schon lange für das, was in Palästina passiert, ohne ein pro-palästinensischer Aktivist zu sein. Was hat eine Kritik, die sich der Revolution zuwendet, zu dem zu sagen, was sich dort abspielt?
Minassian: Ich würde sagen, dass man als Erstes davon ausgehen sollte, dass es nicht zwei Lager gibt, ein palästinensisches und ein israelisches. Diese Menschen leben in einem einzigen Staat und in einer einzigen Wirtschaft. Innerhalb desselben, sagen wir israelisch-palästinensischen Gebildes – das jedoch vollständig in israelischer Hand ist – sind die sozialen Klassen nicht nur in unterschiedliche Rechtsstellungen auf der Grundlage ethnisch-religiöser Kriterien eingebunden, sondern auch „zonisiert“. Der Gazastreifen wurde nach und nach zu einem „Reserve-Gefängnis“, in dem zwei Millionen Proletarier, die an die Ränder des israelischen Kapitals verwiesen wurden, festgesetzt sind. Letzteres bleibt jedoch in letzter Instanz ihr Herr. Die Menschen in Gaza benutzen israelisches Geld, konsumieren israelische Waren und haben von Israel ausgestellte Ausweise.
Der gegenwärtige „Krieg“ entspricht in Wirklichkeit einer Situation einer extremer Militarisierung des Klassenkriegs.
Ein „Land für zwei Völker“ – ein solches Raster der Situation in Israel-Palästina ist abwegig. Nirgendwo auf der Welt gehört das Land den Völkern. Es gehört den Besitzern. Das mag alles sehr theoretisch klingen, aber die Existenz der sozialen Beziehungen selbst wirft die Idee der „Lager“ auf diejenigen zurück, denen sie gehört: die Herrschenden.
Die Flüchtlingslager im Westjordanland, die man als das schlagende Herz „Palästinas“ bezeichnen könnte, sind nach wie vor Vororte von Tel Aviv. Ich verbrachte Abende damit, Tagelöhnern aus einem dieser Lager zuzuhören, wie sie erzählten, wie sich die Ethnisierung der Arbeitskräfte auf den Baustellen der israelischen Hauptstadt entfaltete: die aschkenasisch-jüdischen Bauherren, die palästinensischen Dienstleister von 1948 für die Durchreise der Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten, die sephardisch-jüdischen Vorarbeiter, die ebenfalls arabischsprachig waren, usw. Die meisten von ihnen waren in der Lage, ihre Arbeit zu verrichten. Und dann all die anderen importierten Proletarier: Thailänder, Chinesen, Afrikaner, die als sans-papiers in Wirklichkeit diejenigen sind, deren Situation am schlimmsten ist. All das kann nicht vermischt werden, denn jede Gruppe hat einen eigenen Status und einen eigenen Platz in den Produktionsverhältnissen.
Aber diese Welten sind nicht untereinander durchlässig, sie sind ineinander verschachtelt, schauen sich gegenseitig an und kennen sich.
Dutzende von Thailändern, die in der Landwirtschaft am Rande des Gazastreifens ausgebeutet wurden, wurden von der Hamas getötet und verschleppt. Jetzt halten israelische Bosse die Löhne anderer zurück, um sie zu zwingen, in Kriegsgebieten zu arbeiten. Jede einigermaßen konsequente Gesellschaftskritik muss im Zusammenhang mit dem, was in Israel-Palästina passiert, auch die Perspektive der thailändischen Arbeiter einbeziehen. Dieses Land soll den palästinensischen Proletariern ebenso wenig gehören wie den thailändischen Arbeitern.
Frage: Ist der Versuch, über die „nationale Frage“ in Israel-Palästina hinwegzugehen, nicht ein bisschen ein Tritt ins Fettnäpfchen?
Minassian: Israel hat es geschafft, eine weltweit einzigartige Situation herbeizuführen: die Integration eines selbst ethnisierten („jüdischen“) Proletariats in den Staat gegen den ebenfalls ethnisierten („arabischen“) Rest des Proletariats. Der israelische Staat hat die Akkumulation von „nationalem“ Kapital in Rekordzeit organisiert, er hat den Import eines „nationalen“ Proletariats organisiert und sich zum Wächter über dessen Existenz und Reproduktion aufgespielt, da er von einem anderen („palästinensischen“) proletarischen Segment in seiner Existenz bedroht wird. Wenn man jedoch die Brille der Phantasmagorie vom „Staat als Garant der Existenz der Menschen“ abnimmt, zeigt sich, dass das jüdische Proletariat in Israel eine Art Kriegsbeute in den Händen des Staates darstellt.
Dies ist auf der Seite des palästinensischen Proletariats nicht der Fall, wo die Kampfdynamiken eine gewisse Autonomie bewahrt haben und in komplexer Weise mit den instrumentellen Logiken ihrer nationalistischen politischen Rahmung koexistieren.
Es mag widersinnig erscheinen, aber ich denke, man muss die Hamas als Subunternehmer Israels für die Verwaltung des Proletariats im Gazastreifen betrachten. Wie ich bereits sagte, „untersteht“ letzteres in letzter Instanz dem nationalen israelischen Kapital. Solange dieses nicht die Wahl getroffen hat, die Entwicklung einer anderen, „palästinensischen“ kapitalistischen Entität an seiner Seite zuzulassen, ist das Proletariat des Gazastreifens, selbst wenn es eingepfercht ist, in seine Kreisläufe eingeschrieben. Diese Situation kommt jedoch nicht ohne eine ausgelagerte soziale Formation aus, die mit der Regulierung der Eingeschlossenen betraut ist – es gibt kein Gefängnis ohne Aufseher.
Was hier geschieht, ist kein inter-imperialistischer Krieg. Es ist im Wesentlichen eine „innere Angelegenheit“, in der die „nationalen“ Lager eine Nebelwand sind. In den aktuellen Ereignissen gibt es keinen proletarischen Kampf. Die Militarisierung der Antagonismen, die von der Hamas und der israelischen herrschenden Klasse gemeinsam produziert wird, bringt einen „Widerstand“ hervor, der keine Logik eines autonomen proletarischen Kampfes enthält, nicht einmal eine stammelnde.
Das ist kein Krieg, sondern eine Verwaltung des überzähligen Proletariats mit militärischen Mitteln, die denen des totalen Krieges entsprechen, von Seiten eines demokratischen, zivilisierten Staates, der zum zentralen Block der Akkumulation gehört. Diese Tausende von Toten scheinen mir eine besondere Bedeutung zu haben. Sie zeichnen ein erschreckendes Bild der Zukunft – der kommenden Krisen des Kapitalismus.
Aber eine Verwaltung des überzähligen Proletariats mittels Bombenteppichen, die in der Art und Weise, wie sie von allen Zentralstaaten des kapitalistischen Raumes als legitim angesehen wird, das, was derzeit geschieht, meiner Meinung nach in eine globale Offensive einbettet. In Frankreich tritt dieser globale Charakter besonders deutlich hervor: Wir sind in eine Phase eingetreten, in der selbst politische Formulierungen mithilfe humanistischer Parolen bekämpft werden – sobald sie auf eine Straßenaktivität der gefährlichen Klassen stoßen könnten. Es gibt keinen „Import“ des Konflikts. Es gibt eine globale Offensive. In diesem Sinne findet der Kampf für uns in Frankreich sehr wohl hier statt, gegen Frankreich. Wir haben unsere eigene Nation zu verraten, immer, wann immer es möglich ist.
Frage: Was hat die Hamas in einer solchen Situation zu gewinnen?
Minassian: Vor dem 7. Oktober hatte ich folgende Vorstellung von der Situation. Auf der einen Seite eine Offensive der kolonialen extremen Rechten, sowohl um das Westjordanland zu annektieren als auch um die Schalthebel des israelischen Staates in die Hand zu bekommen. Auf der anderen Seite zwei palästinensische Staatsapparate, die ausschließlich von Renten leben und nur daran interessiert sind, sich als solche zu reproduzieren. Ich hatte im Hinterkopf, dass diese Mächte in der Defensive waren und dass sie sich vor allem darauf vorbereiteten, einen Kontrollverlust über die von ihnen abhängige Bevölkerung sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland zu erleiden.
Unter meinen Gesprächspartnern im Westjordanland, ob linke Akademiker oder bewaffnete Subproletarier, sagten mir vor einigen Monaten alle: „Die Hamas unterstützt nicht den Widerstand vor Ort. Sie denkt an ihre eigenen Interessen“.
Und in der Tat hat sich die Hamas nicht wie eine Kampforganisation verhalten, sondern wie eine militärische Struktur, wie ein Staat. Das Besondere an ihrer Operation war jedoch, dass sie zwangsläufig die Aussicht auf einen israelischen Gegenschlag enthielt, dem sie in einer imposanten Unterlegenheit gegenüberstehen würde. Die Hamas verhält sich wie ein Staat, aber ohne die Mittel eines Staates, und sie opfert einen Teil der Interessen eines Teils ihres Apparats und ihrer sozialen Basis in Gaza, in der Hoffnung, in Zukunft mehr zu haben. Viele der Anführer werden bei dieser Aktion ihr Leben verlieren.
Die Operation vom 7. Oktober stellt seitens einer herrschenden Klasse ein erstaunliches Verhalten dar, das sich jedoch meiner Meinung nach in erster Linie durch die Widersprüche erklären lässt, die die Hamas selbst durchziehen. Es ist eine Hypothese, aber es ist nicht undenkbar, dass die Operation vom 7. Oktober vom bewaffneten Arm der Hamas ohne große Absprache mit der politischen Führung konzipiert wurde. (Es ist auch denkbar, dass das Ausmaß der Bresche in der Mauer die Planer des Angriffs selbst überrascht hat, die vielleicht eine Art Selbstmordaktion durchführen wollten und nicht mit einem solchen militärischen Zusammenbruch Israels gerechnet hatten, der die Tür zu Massakern großen Ausmaßes öffnete).
Die Operation der Hamas ist keineswegs ein fanatischer tausendjähriger Wahn. Es ist eine riskante Wette, die sich aber auszahlen kann. Die Optionen in Israels Händen sind begrenzt. Es gibt den Weg der Verhandlungen, den Weg des regionalen Krieges und nicht viel dazwischen. Aber es bleibt eine Wette, denn es ist nicht sicher, dass der israelische Staat und das israelische Kapital die Entscheidung für eine Stabilisierung treffen werden.
In jedem Fall ist die Etappe „Massaker“ durch Gräberteppiche unvermeidlich, aber das ist eine andere Frage, sie bereitet den Führern natürlich keinerlei Sorgen.
Frage: Du sagst, dass die Hamas sich wie ein Staat verhält, aber nicht die Mittel dazu hat. Du sagst auch, dass sie einige ihrer Interessen opfert, um später mehr davon zu haben. Kannst du das genauer erklären?
Minassian: Ganz einfach, im Rahmen von Verhandlungen anerkannt zu werden. Wahrscheinlich nicht im Hinblick auf ein Friedensabkommen, so weit sind wir noch nicht und in Wirklichkeit glaube ich, dass weder die Hamas noch Israel ein Interesse an einem umfassenden Abkommen haben. Aber die Ausrottung der Hamas ist aus israelischer Sicht nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen. Indem sie ihre militärischen Fähigkeiten demonstriert, versucht die Hamas, sich als unabdingbar für das regionale Kräfteverhältnis zu erweisen.
Das Scheitern der Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen dem Iran und den USA in den letzten Jahren zeigt, dass die Zeit nicht für „Lösungen“ reif ist. Für die Hamas geht es, wie jedermann sagt, darum, die amerikanische Lösung eines israelisch-saudischen Abkommens zu blockieren. Was sie dabei zu gewinnen hat, ist in erster Linie, sich als Gesprächspartner für die arabischen Länder in der Region zu etablieren, die PLO [Palästinensische Befreiungsorganisation, zu der neben der Fatah auch die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) gehört] im Westjordanland und im Libanon weiter zu marginalisieren. Es bedeutet, kleine Märkte der palästinensischen Vertretung auf Kosten des PLO-Konkurrenten zu erobern.
Frage: Sind die Interessen, die hier auf dem Spiel stehen, wirklich so begrenzt?
Minassian: Ich weiß nicht genau, wie ich diese Frage beantworten soll. Natürlich müssen diese Militäroperation und der Krieg, den sie auslöst, auch in einem globalen Kontext gesehen werden, in dem die Regulierungskanäle des Kapitalismus zusammenbrechen.
Krieg ist meines Erachtens immer ein Versuch, die Krise der kapitalistischen Verwertung als Operation der Deakkumulation zu lösen. Aber er ist auch Ausdruck der Erschütterung des Gleichgewichts, das dem Verhältnis zwischen Staat und Kapital zugrunde liegt. Er ist ein Krisenmoment, in dem die Kontrolle des Kapitals, des Gesamtkapitals, über den Staat gelockert wird zugunsten der Aneignung des Staates durch bestimmte besondere kapitalistische Sektoren, ja sogar durch Clans und Politiker. Der Krieg zwischen Kapitalisten ist nicht nur ein Krieg zwischen Imperialismen. Er bringt zahlreiche Akteure zusammen, die in Ermangelung von Leitplanken manchmal riskante Wetten eingehen, eine Karte ausspielen und versuchen, von einer Umwälzung der Kräfte zu profitieren. Eine solche Spirale ist seit dem Krieg in der Ukraine zu beobachten. Die eingefrorenen Fronten erwachen wieder: Wir hatten Karabach, jetzt ist es Gaza.
Die Generalstäbe rücken vor, probieren Pläne aus, testen Widerstände und stürzen sich ins Wasser. Das ist es, wozu sie spontan Lust haben, ständig. Was uns in den letzten zwei Jahren überrascht hat, ist, wie sehr die Leitplanken, die sie zurückhielten, zu zerbröseln scheinen.
Frage: Welcher Art ist die Herrschaft der Hamas über die Menschen in Gaza? Wie sichert sie ihre Macht; welche Gewinne ziehen ihre Anführer daraus; welche (offenen oder verdeckten) Verbindungen zu Israel unterhält sie?
Minassian: Die Hamas ist eine Bewegung, die aus der Bewegung der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. Wie fast überall in der arabischen Welt entwickelte sie sich in den 1970er und 1980er Jahren innerhalb des palästinensischen Kleinbürgertums, in den besetzten Gebieten und in der Diaspora. Seit ihrem Eintritt in den Kampf gegen Israel im Zuge der ersten Intifada hat sich diese soziale Basis auf proletarischere Segmente ausgeweitet, bevor die Kontrolle über das Gaza-Territorium und seine Militarisierung ihren Charakter grundlegend verändert haben. Sie fand sich, wie bereits erwähnt, in der Position eines Staatsapparats wieder, mit der Notwendigkeit, viele verschiedene und gegensätzliche kategoriale Interessen zu integrieren, zwischen ihnen zu jonglieren und zu vermitteln. Und parallel dazu hat sich die Hamas, da Gaza kein wirklicher Staat ist, auch in eine Milizpartei verwandelt, vergleichbar mit der Hisbollah im Libanon.
Diese doppelte Entwicklung hat eine widersprüchliche Dimension. Ich stelle die Hypothese auf, dass der aktuelle Krieg in gewisser Weise den Sieg der zweiten Logik über die erste markiert. Der bewaffnete Arm hat über den Staatsapparat gesiegt; die militärischen Alimentierungskreisläufe (aus dem Iran) haben über die zivilen Alimentierungskreisläufe (aus Katar) gesiegt.
Die Hamas ist eine klassenübergreifende Bewegung, was ihre erratischen Bewegungen erklärt. Die Bewegung gewann die Wahlen zum palästinensische Legislativrat 2006 als Partei der Ordnung: Sie versprach, dem Sicherheitschaos ein Ende zu setzen, die Waffen zum Schweigen zu bringen, die Korruption zu bekämpfen, einen pro-bürgerlichen Staatsapparat aufzubauen, der die soziale Ordnung mit einer auf Wohltätigkeit basierenden sozialen Umverteilung sicherstellt. Paradoxerweise erschien sie als die Anti-Intifada-Partei, und die Mehrheit der Notabeln der beiden Wirtschaftszentren des Westjordanlands, Nablus und Hebron, stand damals auf ihrer Seite, blieb aber mit jordanischen Wirtschaftsinteressen verbunden. Die Hamas gewann anschließend die entsprechenden Wahlen im Gazastreifen, allerdings mit den Parolen Widerstand und militärische Rekrutierung, die auf das Lumpenproletariat in den Flüchtlingslagern abzielten. Nicht mit der Logik eines Aufstands oder einer sozialen Bewegung, sondern mit der Logik militärischer Klientelpolitik. Anders als im Westjordanland gibt es in Gaza keine Handels- und Stadtbourgeoisie.
Der Interklassismus ist seitdem nicht mehr explodiert. Die Hamas hantiert weiterhin mit gegensätzlichen Mobilisierungslogiken. Der Anführer ihres bewaffneten Arms, Mohammad Deif, ist eine Art mythische Ikone, ein Überlebender zahlreicher gezielter Mordversuche. Er wird als James Bond aufgebaut, um mit Teenagern in Flüchtlingslagern zu sprechen, während die Führer in Anzügen in 5-Sterne-Hotels in Katar abhängen und mit Ministern und Kapitalisten aus der arabischen oder türkischen Welt alle möglichen Leckereien essen. Und wenn es der Mohammad-Deif-Rand ist, der eine Aktion wie die vom 7. Oktober startet, lässt die Anzugträger-Fraktion ihn gewähren, weil sie geheime Hoffnungen hegt, die Früchte in den diplomatischen Korridoren ernten zu können.
Frage: Ich bin vorsichtiger, was die Kompradorenbourgeoisie in Gaza-Stadt davon hält, während ihre Villen von den Bomben dem Erdboden gleichgemacht werden.
Was sind die Merkmale der Ausbeutung der Proletarier in Gaza?
Minassian: Ich habe viel Zeit im Westjordanland verbracht, aber ich kenne den Gazastreifen nicht direkt. Aufgrund seiner politischen und geografischen Lage, die an einen Raum intensiver kapitalistischer Akkumulation geklebt ist, könnte man sagen, dass Gaza ein großer „Mülleimer“ Israels ist. Aber selbst in den Mülltonnen der Kapitalisten gibt es soziale Spaltungen.
Ist es im Grunde eine Art Ghetto? Konkret: Haben die Proletarier in Gaza Arbeit (formell oder informell), oder muss man sie mehrheitlich für überzählig halten?
„Überzählig“ in dem Sinne, dass die Arbeit in Gaza fast nirgends eine kapitalistische Akkumulation ermöglicht. Das Kapital, das in Gaza zirkuliert, stammt hauptsächlich aus Renten (und selbst das sind nur sehr unbedeutende Renten): Renten aus der Auslandshilfe (Iran und Katar), Renten aus Monopolsituationen (die Tunnel). Die erwirtschafteten Profite resultieren nicht aus der Ausbeutung der Arbeit durch Kapitalisten. Die Reproduktion der Proletarier und die Verwertung sind zwei getrennte Prozesse, wie der Eine sagen würde. Die Bosse sind in ihrer überwältigenden Mehrheit unbedeutend und der Staat reguliert nichts.
Gaza ein Raum, der völlig abseits der kapitalistischen Verwertungskreisläufe liegt, wie viele andere Peripherien der Welt auch. Es gibt keine „nationale Bourgeoisie“, da es kein Gaza-Kapital gibt.
Es gibt auch keine „traditionelle Bourgeoisie“ wie im Westjordanland oder in Jerusalem – alte Familien, die auf verstaubtem Handels- und Landkapital sitzen, das aber in den sozialen Beziehungen noch effizient ist. Stattdessen gibt es in Gaza eine Form der neuen „Kompradoren“-Bourgeoisie, die sich auf Zirkulationsrenten stützt. Dabei handelt es sich nicht um eine Klasse im engeren Sinne, sondern um eine soziale Formation, die massive Einkünfte aus ihrer Position als Vermittler im Handel mit ausländischen Kapitalisten bezieht (im Gegensatz zu einer Bourgeoisie, die ein Interesse an der Entwicklung der nationalen Wirtschaft hat).
Ein Teil dieser Bourgeoisie deckt sich mit dem politischen Apparat der Hamas, da das zirkulierende Kapital weitgehend aus einer Rente geopolitischer Natur stammt, es kommt aus Staaten wie Katar oder dem Iran. Aber es gibt auch andere Renten, zum Beispiel aus dem Grenzverkehr mit Ägypten. Um die Schmugglertunnel herum wurden Vermögen aufgebaut, und hier handelt es sich eher um einen globalisierten Feudalherren – typischerweise ein Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Im Jahr 2007 kam es in Rafah im Süden des Streifens zu heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen sozialen Clanformationen und dem politisch-militärischen Apparat der Hamas, bei denen es um die Besteuerung des Warenverkehrs ging.
Im Gegensatz zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ist die Hamas nicht für den öffentlichen Dienst zuständig, sie zahlt auch nicht die Gehälter: Diese gehen immer zu Lasten der PA. Die PA kürzt oder reduziert regelmäßig die Gehälter der Beamten in Gaza, um die Hamas zu schwächen.
Regelmäßig, und wahrscheinlich zum Teil als Folge davon, gibt es auch „soziale“ Mobilisierungen, die Würde fordern – typischerweise Wasser, Strom, Löhne. Die Hamas unterdrückt sie mehr oder weniger gewaltsam, jedoch mit einer gewissen Zurückhaltung, die darauf hindeutet, dass sie darauf achtet, kein Öl ins Feuer zu gießen. Die aktuelle Militäroffensive folgt auf eine ähnliche Episode, die sich im Sommer ereignet hat. Man kann sich leicht vorstellen, dass es eine Verbindung oder zumindest eine Logik gibt, die diese beiden Arten von Ereignissen miteinander verbindet.
Der Protest gegen die verwaltende Hamas und die Unterstützung der kämpfenden Hamas sind keineswegs antagonistisch. Der erste greift Ihre Würde an, während die zweite sie rächt. Ohne die Hamas-Kämpfer hätte die Hamas-Verwaltung in Gaza wahrscheinlich mit größeren Protesten zu kämpfen.
Frage: Du sagst, dass du das Westjordanland besser „kennst“ als Gaza. Gibt es große Unterschiede zwischen diesen beiden Gebieten oder handelt es sich im Gegenteil um zwei Varianten derselben Logik?
Minassian: Der Gazastreifen ist seit langem der bereits erwähnte „Mülleimer“ mit überzähligen Flüchtlingen. Ein winziges Gebiet, in das 1947-1948 ein Strom von Flüchtlingen getrieben wurde, der die lokale, überwiegend bäuerliche Bevölkerung überschwemmte. Es gibt dort keine Ressourcen. Im Westjordanland ist die Klassenbildung anders, dort gibt es Städte und Honoratioren. Und es gibt landwirtschaftliche und Wasserressourcen, die Israel für sich beansprucht. Die Löhne sind doppelt so hoch, es gibt einige Industriezweige, die auf einer relativen Integration zwischen der Kompradorenklasse der PA und dem israelischen Kapital beruhen. Die Fatah, die die Städte regiert, ist eine Partei, die keinen sozialen Zusammenhalt mehr hat. Im Jahr 2006 verlor sie die Wahlen gegen die Hamas. Im Jahr 2007 unternahm sie einen von Israel und den USA unterstützten Coup, um die Hebel der öffentlichen Macht in den Städten des Westjordanlandes zu behalten, und „überließ“ Gaza der Hamas. Seitdem hat sie keine auf irgendeiner Form von demokratischem Verfahren beruhende Legitimität mehr. Ihre Macht beruht auf der Zusammenarbeit mit Israel, die hinter hohl klingenden nationalistischen Reden verborgen ist. Sie regiert über voneinander getrennte Enklaven, die immer mehr von Siedlungen umgeben sind und in die die israelische Armee regelmäßig eindringt.
Viele palästinensische Arbeiter aus dem Westjordanland arbeiten legal oder illegal auf israelischem Gebiet oder in den Siedlungen. Sie haben wirtschaftliche Verbindungen zu den Palästinensern von 1948, die mit der israelischen Staatsbürgerschaft ausgestattet sind; sie sprechen oft Hebräisch.
Was passiert derzeit im Westjordanland? Was macht die Fatah? Gibt es soziale oder politische Kräfte, die einen mehr oder weniger proletarischen Charakter haben, die im Moment der Krise stärker werden könnten?
Der Gazastreifen scheint mir im Moment verloren, was die Möglichkeiten hinsichtlich einer proletarischen Aktivität betrifft. Anders sieht es in den Städten des Westjordanlandes aus, wo der innerpalästinensische Kampf um die politische Kontrolle seit Jahren mit autonomen Manifestationen des Klassenkampfes voranschreitet. Die soziale Kontrolle wird gemeinsam durch einen Sicherheitsapparat gewährleistet, der von kompradoren Kapitalisten, die von Israel abhängig sind, und städtischen Baronen, die mit Jordanien verbunden sind, unterhalten wird. Der Zusammenhalt dieser Klasse zerfällt immer weiter, die Fatah reguliert nichts mehr und jeder versucht, sich sein Lehen auf Kosten der anderen zu sichern. Das erwartete Ereignis, das all dies klären sollte, ist der Tod des paranoiden Dinosauriers Mahmud Abbas, aber die Dinge werden sich zwangsläufig beschleunigen.
Die Hamas ist seit fünfzehn Jahren im Westjordanland in einen Schlafmodus gefallen. Es gibt keine öffentlichen oder direkten militärischen Aktivitäten. Sie unterhält Loyalitäten, aber diskret. Die bewaffneten Gruppen, die im Norden (Nablus, Jenin, Tulkarem) wieder aufgetaucht sind, haben keine Verbindungen zu ihr. Diese Passivität erweckte den Eindruck, dass die Hamas die Situation abgesegnet hatte und den Status quo nicht durchbrechen wollte. Innerhalb der bewaffneten Gruppen in den Flüchtlingslagern brachte ihr das einen schlechten Ruf ein: Sie war die Kehrseite der Fatah, nur Maulhelden, politische Interessen, die sich von denen des Volkes unterschieden. Und dann diese Operation: Das ändert eindeutig die Situation in Bezug auf die Wahrnehmung. Ob es uns gefällt oder nicht, das Wappen wird dadurch verdammt aufgewertet. Schon jetzt sieht man die Hamas-Flagge überall auf den Demonstrationen wehen, was vor einem Monat noch unvorstellbar war. Wird die Hamas der PA die Macht im Westjordanland direkt streitig machen? Das ist unwahrscheinlich, da ihre Aktivitäten nicht nur von der PA, sondern auch von Israel genau überwacht werden und da die palästinensischen Enklaven im Westjordanland kein zusammenhängendes Gebiet bilden, lassen sie sich militärisch nicht halten, ohne die Sache mit der israelischen Armee zu verhandeln. Aber sie kann ihre Strategie ändern und die Aktivitäten bewaffneter Gruppen auf die eine oder andere Weise unterstützen.
Wie dem auch sei, die Dinge werden sich zwangsläufig bewegen. Die PA wird es schwer haben, ihre Sicherheitshoheit aufrechtzuerhalten. Die Kohärenz der politisch-sicherheitspolitischen Klasse wird auf eine harte Probe gestellt werden.
Die Armee und die Siedler haben parallel zur Offensive in Gaza eine Reihe von Angriffen im Westjordanland gestartet. Diese Offensive wird sich intensivieren und eine Reihe von Massakern mit sich bringen, die stärker eingegrenzt sind als in Gaza, aber wahrscheinlich auch stärker „selbstorganisiert“ sind.
Es gibt also allen Grund, besorgt zu sein. Aber irgendwie habe ich auch die Hoffnung, dass ein autonomer Kampfraum gestärkt wird und die bleierne Decke aus Unterdrückung und Klientelismus, die die PA in den letzten 15-20 Jahren produziert hat, wegfegt – dass ein Zusammenbruch der palästinensischen Sicherheitskräfte die seit Jahren erwartete soziale Explosion ermöglicht. Die Klassenverhältnisse im Westjordanland sind von außergewöhnlicher Gewalt geprägt. Die Bourgeoisie im Westjordanland hat lange Zeit von der kooperativen Situation mit Israel profitiert, sie hat sich vollgefressen und es wäre gut, wenn sie den Hintern ein bißchen zusammenkneifen müsste.
Frage: Seit einiger Zeit gibt es in Israel soziale Proteste gegen Netanjahu und insbesondere seine Justizreform. Welche Konsequenzen haben diese Kämpfe (wenn überhaupt) in der aktuellen Situation? Inwieweit drückt der „zivile“ Widerstand der israelischen Bevölkerung (z. B. die jüngsten Kämpfe gegen die Justizreform) solche Bestrebungen aus?
Minassian: Der Krieg scheint mir auch ein Symptom für den Kohärenzverlust der Kapitalistenklasse zu sein; und gleichzeitig wird dieser Kohärenzverlust durch die militärische Einheit verschleiert. Der israelische militärische Zusammenbruch am 7. Oktober scheint weitgehend aus der Auseinandersetzung hervorzugehen, die durch die israelische Kapitalistenklasse verläuft und die zum ersten Mal die Institution des Militärs erreicht hat. Der Kampf in den letzten Monaten war intensiv und hat sich auf der Straße entladen. Das alte Israel, aschkenasisch, bürgerlich, säkular und militärisch, das vertikal in Tel Aviv akkumuliert, traf auf die herrschende extreme Rechte, sephardisch, revanchistisch und horizontal akkumulierend in den Hügeln des Westjordanlandes. Aber bei diesen Demonstrationen ist nie etwas Proletarisches übergeschwappt. Schlimmer noch: nichts Demokratisches, im „zivilen“ Sinne, wie du es nennst. Das Proletariat in Israel, das dennoch unter einem hohen Ausbeutungsniveau leidet, wird durch seine existenzielle Einbindung in den Militärstaat mundtot gemacht.
Die kriegerische nationale Einheit hat diesen Machtkampf innerhalb der israelischen herrschenden Klasse vorübergehend unter den Teppich gekehrt: Um Gaza unter einem Bombenteppich zu ertränken, sind sich alle einig; und um eine bleierne Sicherheitsdecke zu errichten, auch. Seit der allgemeinen Mobilmachung ist die Jagd auf den inneren Feind eröffnet. Sie betrifft die Handvoll Linker, die es noch gibt, aber auch und vor allem das muslimische Proletariat (die Palästinenser von 1948), bei dem jede noch so kleine Solidaritätsbewegung mit den Opfern der wahllosen Bombardierungen zur Strecke gebracht wird. Was wird in einigen Monaten passieren? Wird der Krieg zu einer Angleichung der herrschenden Klasse an die Siedlerpartei führen? Diese wird zwar von der Mehrheit der Bourgeoisie wegen ihrer religiösen Rückständigkeit verachtet, steht aber dennoch am stärksten im Einklang mit einer Mobilisierung, die auf die Jagd nach Arabern ausgerichtet ist und zweifellos noch nicht enden wird.
Frage: Glaubst du, dass das rein koloniale Analyseraster operativ ist, um die Beziehungen zwischen Israel und dem palästinensischen Proletariat zu definieren?
Minassian: Ja und nein, offenkundig.
Wir befinden uns in einer Situation, in der es weniger um die Ausbeutung einer einheimischen Arbeitskraft geht als um die Verwaltung einer überschüssigen proletarischen Bevölkerung, und zwar in einem Ausmaß, das innerhalb der kapitalistischen Akkumulationszentren einzigartig ist. Für jeden Arbeiter mit einem Arbeitsvertrag in Israel gibt es einen weiteren, der in einer der großen geschlossenen Vorstädte festgehalten wird, die die Siedlungszentren unter palästinensischer Gerichtsbarkeit bilden: der Gazastreifen und die Städte des Westjordanlandes. Das sind fast fünf Millionen Proletarier, die nur wenige Kilometer von Tel Aviv entfernt eingepfercht sind, unsichtbar, die vom täglichen Verkauf ihrer Arbeitskraft leben und von Soldaten bewacht werden, damit sie nicht aus ihren Käfigen herauskommen.
Dieses große Einsperren, diese Operation der Trennung zwischen nützlichen Proletariern und überzähligen Proletariern auf ethnisch-religiöser Basis, beginnt gleichzeitig mit dem Beginn des Friedensprozesses, der in Wirklichkeit ein Prozess der Externalisierung der sozialen Kontrolle über die Überzähligen ist. Zuvor, in den 1970er und 1980er Jahren, waren die Palästinenser massiv vom israelischen Kapital in Lohn und Brot gebracht worden.
In diesem Sinne ist der Begriff „kolonial“ etwas unpassend, um das soziale Verhältnis zu bezeichnen, das seit Anfang der 1990er Jahre in Israel-Palästina herrscht. Darüber hinaus hat er den Nachteil, dass er einen Gegensatz zwischen zwei nationalen Formationen festschreibt, die in Wirklichkeit gemeinsam produziert und reproduziert werden. Palästinensische und israelische Proletarier sind Segmentierungen ein und desselben Ganzen. Was sich seit dem 7. Oktober abspielt, muss als eine Verhandlung durch Gewalt zwischen dem Subunternehmer aus Gaza und seinem israelischen Arbeitgeber betrachtet werden. Es muss in diesem Sinne klar von der Kampfaktivität der palästinensischen Proletarier unterschieden werden, der die Subunternehmer der Hamas und der PA an vorderster Front gegenüberstehen. Sie hat nie aufgehört zu existieren, aber die nationalistische Umarmung wird ihr, zumindest in Gaza, einen schweren Schlag versetzen.
Abgesehen von allen moralischen Erwägungen scheint mir der Begriff „Widerstand“, der auf die koloniale Vorstellungswelt verweist, ungeeignet, um die Militäroperation vom 7. Oktober zu bezeichnen: Die Interessen der Hamas sind nicht die der Proletarier, sie sind nicht die – um die gängige Vokabel zu verwenden – des „palästinensischen Volkes“. Die Proletarier in Gaza werden, unabhängig vom Ergebnis dieser Verhandlungen, die großen Opfer sein – sie sind es bereits. Wenn Israel die Flügel wachsen, um sich seines Subunternehmers zu entledigen, würde das bedeuten, dass Israel die Flügel wachsen, um sich seiner überzähligen Proletarier in Gaza zu entledigen. Das eine kann nicht ohne das andere gehen.
Andererseits glaube ich aber auch, dass wir nicht ohne ein auf dem Kolonialen basierendes Analyseraster auskommen können.
Israel beerbt diese europäische Logik, die darin besteht, die Arbeitskraft auf der Grundlage rassischer Kriterien zu „animalisieren“ und eine Barriere zwischen der zivilisierten und der vorzivilisierten Welt zu ziehen. Dieses Paradigma wirkt in Israel mit voller Wucht, und zwar auf eine ganz bewusste Weise. Derzeit werden die Menschen in Gaza nach dieser Logik massakriert: Man ertränkt sie in Bomben, ohne ein anderes politisches Ziel zu verfolgen, als sie zu „beruhigen“ und an die Hierarchie zu erinnern, die die Menschengruppen in dieser Region der Welt voneinander trennt. Ein Hund beißt, man erschießt das Rudel.
Es muss daran erinnert werden, dass diese Grenzen zwischen Zivilisation und Tier fließend sind. Sie waren und sind auch innerhalb der israelisch-jüdischen Staatsbürgerschaft wirksam. Arabische (Mizrahis) oder äthiopische (Fallashas) Juden waren lange Zeit auf der falschen Seite des Zauns und stellten eine Art einheimische Prügelknaben dar, die dazu benutzt wurden, andere Einheimische zu besänftigen.
Das Koloniale, als Erbe der eigentlichen Kolonialzeit, erzeugt eine Art „Trieb“-Ökonomie, um die sich der Aufbau sozialer Kategorien rankt – und das ist übrigens nur das vergröberte Bild dessen, was in der gesamten „Festung“, die aus den zentralen Ländern der kapitalistischen Akkumulation besteht, vor sich geht, wie man an der unmittelbaren Übertragung des „Zivilisationskriegs“ auf Frankreich sieht.
Die gegenwärtige Dynamik und ihre Logik, die überzähligen Proletarier in Reserve zu halten, führt eine Flut von Affekten mit sich, die auf Demütigung aufgebaut sind. Angesichts der Unmöglichkeit, kollektiv in die sozialen Beziehungen einzugreifen, produziert die Ohnmacht eine Logik des doppelten Ressentiments: Suche nach Anerkennung auf der einen Seite, Rache auf der anderen.
Weil sie keine Bourgeoisie haben, auf die sie sich stützen, weil sie kein Proletariat haben, das sie selbst ausbeuten, müssen sich Politiker wie die der Hamas auf die Ausbeutung dieser Affekte stützen, deren Verkörperung sie werden – aus Mangel an etwas Besserem, aus Mangel an mehr.
Frage: Um auf Israel zurückzukommen: Wenn man bedenkt, dass die kapitalistische Akkumulation weitgehend auf der permanenten „Kriegswirtschaft“ + auf der Landnahme + auf der Ausbeutung des mehr oder weniger formellen palästinensischen Proletariats beruht, muss man dann jede „Lösung“ (z. B. „Zweistaatenlösung“) als entschieden unmöglich betrachten?
Minassian: Als Israel ab den 1990er Jahren die Verwaltung der palästinensischen Arbeitskräfte in den besetzten Gebieten loswerden wollte, übertrug es diese Aufgabe an einen Subunternehmer, die Palästinensische Autonomiebehörde. Doch Israel hält sich nicht an den Vertrag, der zu einer Art symbolischer Souveränität führen sollte. Es misshandelt seinen Subunternehmer. Daraufhin revoltiert der Subunternehmer: Es kommt zur zweiten Intifada, in der sich ein Kampf der PA gegen ihren Arbeitgeber mit einem allseitigen proletarischen Kampf gegen Israel und den Subunternehmer vermischt, der sich jedoch als durch die Triangulierung abgewürgt erweist. Am Ende dieser historischen Sequenz spaltet sich die Subunternehmerschaft der PA. Ein schlecht behandelter, aber gefügiger Subunternehmer im Westjordanland; ein anderer schlecht behandelter, aber quirliger Subunternehmer in Gaza. Die Hamas mag als Feind behandelt werden, aber Tatsache ist, dass Israel in diesem Kontext nicht ohne Subunternehmer auskommt.
Kehren wir kurz zu diesem Prozess und seinem Scheitern zurück. Warum haben die Kapitalisten den „Frieden“ nicht ergriffen, der darin bestand, einen palästinensischen „nationalen Prozess“ in Gaza und im Westjordanland zu unterstützen? Was ihnen damals in den Schoß fiel, war die Öffnung eines regionalen Marktes mit den umliegenden Ländern, die Möglichkeit von Investitionen in Ländern mit billigen Arbeitskräften. Es hätte ausgereicht, der Autonomiebehörde die Attribute eines Schurkenstaates zu überlassen, der von externen Geldgebern bis zum Anschlag finanziert wird und der ein gefangener Markt geblieben wäre.
Die Antwort auf diese Frage ist für mich nicht eindeutig. Ich stelle zwei Hypothesen auf. Die erste ist die des Gewichts des „militärischen“ Kapitals, das durch die militärische Rente gestützt wird, die aus den USA nach Israel fließt. Dieser Militärkapitalismus, der mit dem High-Tech-Sektor verbunden ist, wird über den Kopf des regionalen Marktes hinweg internationalisiert. Die zweite Hypothese sieht das Scheitern des Friedensprozesses als Teil der großen Katastrophe, die der Versuch der USA, den Nahen Osten in den 2000er Jahren umzugestalten, darstellte.
In der Erwartung, dass sich der Kapitalfluss in der Region durch militärische Mittel verflüssigen würde, hatte sich Israel dann zunächst daran orientiert, bevor es sich vorstellte, dass es die ‘Untervergabe’ haben könnte, ohne etwas an die Machthaber in den palästinensischen Reservaten abtreten zu müssen. Dies alles hielt fast zwanzig Jahre lang an. In diesem Zusammenhang entstand schließlich sogar die Aussicht auf die Erschließung neuer Märkte in der arabischen Welt (das so genannte Abraham-Abkommen und neue Aussichten auf eine Pax americana mit Saudi-Arabien), und es ist wohl diese Situation, die gerade zerbrochen ist.
Was sich am 7. Oktober gezeigt hat, ist, dass die Butter-und-Brot-Gleichung nicht haltbar ist: Man wird mit den palästinensischen Kerkermeistern der palästinensischen Reserven verhandeln müssen, um die auf seinem Territorium gebildeten Ghetto-Reserven einzudämmen, oder sich ihrer entledigen müssen, was eindeutig eine neue Seite in der Geschichte der kapitalistischen Gewalt in den Ländern des zentralen Akkumulationsblocks aufschlagen würde. Das ist nicht unmöglich. Es lässt einen nur schaudern.
Frage: Ist die Idee des „palästinensischen Volkes“, auch wenn sie sich über die sozialen Spaltungen hinwegsetzt, nicht trotzdem operativ, auch innerhalb der beherrschten Klassen?
Minassian: Gesellschaftskritik ist meiner Meinung nach vor allem die Produktion von Kategorien, die es ermöglichen, Antagonismen in Form von sozialen Widersprüchen zu denken. In einem Kontext wie dem israelisch-palästinensischen mag dies wie eine Operation erscheinen, die die zirkulierenden subjektiven Kategorien, auf deren Grundlage die Kampfaffekte konstruiert werden, über das, was als Identität wahrgenommen wird, verzerrt.
Die Idee des „palästinensischen Volkes“ als Gegenkategorie zu „Israel“ ist natürlich an vielen Stellen wirksam: auf Ausweispapieren und in den meisten Köpfen, auch als Legitimationsmodus für proletarische Kämpfe.
Aber die Ethnisierung der sozialen Beziehungen hat eine Geschichte, die in erster Linie die Geschichte der herrschenden Klassen ist: Es ist die Geschichte der Bildung einer kapitalistischen jüdischen Bourgeoisie, die eine arabische feudal-marktwirtschaftliche Bourgeoisie auslöscht; die Verschmelzung dieser Bourgeoisie mit einem Militärstaat usw. Die Ethnisierung der sozialen Beziehungen hat eine Geschichte, die in erster Linie die Geschichte der herrschenden Klassen ist. Die Proletarier werden in diese Ethnisierung der Antagonismen innerhalb der herrschenden Klasse hineingezogen.
Man darf nie aus den Augen verlieren, dass im „palästinensischen Kampf“, einschließlich des unter dem Banner der Hamas geführten, in erster Linie ein Kampf zu lesen ist, der von den herrschenden arabischen Gesellschaftsklassen – oder von denen, die danach streben, in sie zu investieren – für ihre Integration in das israelische Kapital geführt wird. Die Interessen der Proletarier, auch wenn sie sich manchmal unter dem Banner des nationalen Kampfes wiederfinden, stehen in letzter Instanz im Widerspruch zu denen ihrer Bourgeoisie.
Ich glaube, dass Solidarität nicht mit dem „palästinensischen Widerstand“, sondern mit den Kämpfen der Proletarier gegen die ihnen zugemuteten Existenzbedingungen geboten ist. Die Proletarier kämpfen unter den Flaggen, die ihnen zur Verfügung stehen. Wir sollten nicht auf die Flagge schauen, sondern auf die Kämpfe selbst. Eine palästinensische Flagge und sogar eine Fatah- oder Hamas-Flagge sind potenziell Kampfstandarten, die sich je nach Kontext den politischen Managern entziehen. Im Übrigen sollte man nicht auf die Hamas scheißen, weil sie Islamisten sind, sondern weil sie ein Apparat zur Kontrolle des Proletariats ist, ein Staat im Entstehen.
Dennoch kann diese Gesellschaftskritik manchmal unglaublich kalt und weit entfernt von den Erfahrungen eines Kampfes erscheinen, der andere Kategorien mobilisiert. Die Mütze, die ich aufsetze, um über dialektischen Materialismus zu sprechen, ist nicht die gleiche, wie wenn sich die Situation vor meinen Augen entfaltet, mit ihrer Gewalt, ihren Kämpfen und ihrer Subjektivität.
Frage: Läuft eine materialistische Kritik in einem derart identifikationsgeladenen Kontext nicht Gefahr, zu abgehoben zu erscheinen?
Minassian: Mir scheint, dass in einem solchen Kontext eine Herausforderung darin besteht, nicht eine Position, sondern einen Standpunkt, eine Methode zu wahren. Ein revolutionärer Blick besteht zunächst darin, sich nicht von der Verselbständigung moralischer Kategorien, die von der Linken gehandhabt werden, blenden zu lassen. Ich sehe zwei, die derzeit in Gesprächen ständig drohen, ein dialektisch orientiertes Denken zu erdrücken.
Der erste ist der reflexartige Klagegesang nach dem Motto „Das Proletariat ist nicht so, wie man es gerne hätte“: antisemitische muslimische Proletarier, rassistische jüdische Proletarier. Abgesehen davon, dass dieses Denken – das darin besteht, die Innerlichkeit des Proletariers von einer intellektuellen Position aus zu betrachten – von Natur aus bürgerlich ist, ist es in einer Situation, die die eines Antagonismus ist, in der sich keine Form proletarischer Autonomie manifestiert, besonders unangebracht.
Was sich derzeit entfaltet, ist eine Logik der Umarmung des Proletariats auf der einen Seite und des reinen Massakers an überzähligen Proletariern auf der anderen. Einige werden also den guten alten Zeiten nachtrauern, in denen die palästinensischen politischen Gruppierungen (und damit, so wird vermutet, das Volk selbst) links waren. Mir scheint, das ist dumm. Die Ideologie der politischen Gruppierungen ist, sobald man davon ausgeht, dass sie in erster Linie darum kämpfen, dass ihre Führer sich zu einer herrschenden Klasse aufschwingen und sich reproduzieren, zweitrangig. Was die Methoden betrifft, möchte ich nur daran erinnern, dass es beispielsweise ein Kommando der DFLP [Demokratische Front für die Befreiung Palästinas], einer ideologisch linksradikalen (und mit Gruppierungen der israelischen Linksradikalen verbundenen) palästinensischen Formation, war, das 1974 das Massaker an 22 Kindern in einer Schule in Ma’alot verübte.
Ein zweiter Reflex des problematischen Denkens besteht darin, die Metaphysik in die Analyse einfließen zu lassen. Dieses metaphysische Denken ist in der Idee der Wiederholung enthalten, die Erstarrung und Verwirrung generiert. Es ist in den Ausführungen über die „Massaker an den Juden“, aber auch über die „palästinensische Tragödie“ am Werk. Diese Elaborate, die sich vielleicht autonom in den Tiefen der Psyche entwickeln, sind nichtsdestotrotz reine Produkte der Art und Weise, wie das bürgerliche Denken die sozialen Verhältnisse in den Himmel der Ideen verschiebt.
Lassen wir die Geschichten von Farce und Tragödie beiseite. Die Geschichte wiederholt sich nicht: Die Antagonismen, die sich entfalten, sind in erster Linie aktuelle Antagonismen.
Dieser Text erschien am 30. Oktober 2023 auf französische hier:
Wir haben die deutsche Übersetzung hier gefunden.