Vorbemerkung: Warum an eine soziale Protestbewegung vor 20 Jahren erinnern?
In diesen Wochen jährt sich zum zwanzigsten Mal der Protest einer sozialen Bewegung, die zunächst ohne die Unterstützung von Parteien und Grossorganisationen über mehrere Wochen viele Menschen auf die Strasse brachte.
Gemeint sind die Montagsdemonstrationen gegen die Einführung von Hartz IV. Den Startschuss lieferte der arbeitslose Kaufmann Andreas Ehrhold, der Ende Juli 2004 Zettel mit den handgeschriebenen Parolen „Schluss mit Hartz IV – denn heute wir, morgen ihr“ verbreitete. Anfangs waren es wenige Hundert Menschen, die sich in Magdeburg versammelten Doch an den darauffolgenden Monaten gingen immer mehr Menschen in immer mehr ostdeutschen Strassen gegen die Einführung von Hartz IV auf die Strasse. Höhepunkt war Montag, der 30 August, als bundesweit mindestens 200.000 Menschen auf die Strasse gingen. Es verwundert wenig, dass in einer Zeit, wo auch in der linken Politik Jahreszahlen eine grosse Rolle spielten, an diese selbstorganisierte Protestbewegung vor 20 Jahren kaum erinnert wird. Gelegentlich werden diese Proteste ob aus Unwissenheit oder Kalkül falsch eingeordnet. So stellt der Publizist Markus Liske in einem Beitrag in der linksliberalen Wochenzeitung Jungle World fälschlicherweise in einen Zusammenhang mit den rechtsoffenen Montagsdemonstrationen mit dem Konflikt Russland-Ukranie im Jahre 2014, wenn er schreibt: „Ihren Anfang nahm die »Friedensbewegung 2.0« im Jahr 2014 damit, dass ein der breiteren Öffentlichkeit bis dahin völlig unbekannter Aktivist namens Lars Mährholz eine fast vergessene Tradition wiederbelebte: die »Montagsmahnwachen«. Deren Ursprung waren regelmässige Demonstrationen gegen die Hartz-Gesetze der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2004 gewesen, die in Anlehnung an die historischen Massenproteste in der Schlussphase der DDR immer montags stattfanden. Die Teilnehmerzahl aber ging bald stark zurück, und so beschlossen die Übriggebliebenen, das Herumlatschen sein zu lassen und sich lieber zu allwöchentlichen Mahnwachen zu versammeln.“ Markus Liske, Jungle World Es gibt aber empirisch keinen Zusammenhang zwischen den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV im Jahr 2004 und den Montagsmahnwachen 10 Jahre später. Die einzige Gemeinsamkeit besteht darin, dass sich beide auf die historischen Montagsdemonstrationen gegen die autoritäre SED-Herrschaft im Jahr 1989 beziehen. Diese Falschdarstellung von Liske zeigt aber nur, wie stark der Protestzyklus vor 20 Jahren vergessen (gemacht) wurde. Zu Unrecht: Gerade heute, wo die Debatte über das Bürgergeld zeigt, wie der Klassenkrieg gegen arme Menschen geführt wird, wäre es wichtig, sich anzuschauen, warum vor 20 Jahren so viele Menschen vor allem in Ostdeutschland gegen Hartz IV auf die Strasse gingen Das Buch Klassenlos Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten hat sich dieser Aufgabe gestellt: Die Herausgeber*innen Anne Seeck, Gerhard Hanloser, Harald Rein und der Verfasser dieser Zeilen haben diesen Text als Aufruf zur Debatte gemeinsam verfasst:
Anne Seeck/Gerhard Hanloser/Peter Nowak/Harald Rein/Thilo Broschell: KlassenLos - ein Aufruf zur Debatte!
Die Rechte auf dem Vormarsch, eine zersplitterte Linke in der Krise: destruktive gesellschaftliche Entwicklungen, prekäre Alltagserfahrungen und mannigfaltige Überwältigungen wie Kriege, Corona und Klimakatastrophe tragen nicht zur Stärkung linker Bewegungen bei – im Gegenteil. Substanzielle emanzipatorische Ansprüche und gesellschaftliche Bewegungen werden immer weiter marginalisiert. Während das Corona-Dilemma noch nachklingt und linke Milieus Aufarbeitung und Selbstkritik scheuen, reiben sich linke publizistische Stimmen in einem fruchtlosen für und wider bei der Beurteilung aktueller militärischer Krisenherde (Ukraine, Gaza) auf. Resultat ist ein recht geringer Widerstand gegen eine zunehmende Militarisierung Deutschlands und Europas bei gleichzeitiger unverhohlener offensiver Kriegspropaganda im öffentlichen Diskurs. Lässt sich bereits während der Corona-Epidemie eine teilweise unkritische Einschätzung linker Bewegungen gegenüber den veranlassten staatlichen Massnahmen feststellen, so hatte die klassenspezifische Beurteilung, demnach das Infektionsrisiko bei schlechten Wohn- und Unterbringungsverhältnissen bei armen Menschen deutlich höher ist als bei sozial Bessergestellten kaum eine Auswirkung auf eine politische Widerstandspraxis (Hanloser/Nowak/Seeck (Hg.): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit, Neu-Ulm 2021). Und auch die systematische Aufblähung militärischer Ausgaben steht in direktem Zusammenhang mit jetzt schon stattfindenden oder bereits geplanten Veränderungen in sozialen Feldern („Sozialer Sektor bricht weg“, Frankfurter Rundschau 19.03.2024). Bürgergeld, Sozialhilfe, Obdachlosigkeit und prekäres Leben und Arbeiten sind Themen, die im linken Lager wenig beachtet werden und selten Teil ihres politischen Schwerpunktes sind. Hatten sich linke und linksradikale Gruppen schon vor Corona kaum um Proteste von Einkommensarmen gekümmert, so brachen diese Verbindungen danach vollends zusammen. Zwar gab es zu Beginn der Corona-Pandemie für kurze Zeit ein vermehrtes Interesse für das Leben armer Leute (etwa die Parole „Keine/r bleibt allein zurück“), doch dieser positive Impuls versandete schnell und wurde vom Streit um die Corona-Massnahmen überlagert; die Belange armer Menschen spielten keine Rolle mehr! In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Widerstandsfähigkeit armer Leute. Die ab den 70ern sich entwickelnde sozialrevolutionäre Linke setzte immer auf Spontanität und Rebellion der Paupers, der Armen und Ausgespuckten. Ist das eine zu verabschiedende Revolutionsillusion? Die Bewegungen auf der Strasse der letzten Jahre waren schliesslich nicht von armen Leuten geprägt. Kann es sein, dass ab einem gewissen Grad von Armut sich die ganze Existenzsituation der meist Vereinzelten in Richtung Apathie entwickelt? Oder fanden sich zu bestimmten Zeiten Arme auf der Strasse, weil es viele organisierte Strukturen (die heute fehlen) gab, an die sie andocken konnten? Heute sehen viel Arme keine Perspektive auf Verbesserung ihrer Lebenssituation durch Demonstrationen, zumal die Alltagspraxis die meiste Zeit und Energie verschlingt. Gab es im Zusammenhang mit der Teuerungswelle 2022/23 noch linke Hoffnungen auf ein Aufbegehren der von den Preissteigerungen am meisten Betroffenen („Winter is Coming: Zeit, Feuer zu machen“), so war kurze Zeit später klar, dass fast alle Ansätze, notleidende Menschen in die Strassenmobilisierung einzubeziehen, scheiterten. Die Strasse wurde eher von rechten Akteuren beherrscht, was wie eine Déjá-vu aus Coronazeiten erschien. Ein eindeutiges Urteil über die klassenmässige Zusammensetzung der Anti-Teuerungsproteste zu fällen, ist so schwer, wie die jüngsten Bauernproteste klar zu beurteilen. Auf dem Hintergrund von Inflation, Krise und Bewegungshoffnung entstand die Idee zu einem Sammelband (Seeck/Hanloser/Nowak/Rein (Hg.): KlassenLos, Berlin 2023) - über unterschiedliche Reaktionen armer Menschen auf zwei Krisenereignissen in Deutschland: der Massenarbeitslosigkeit im Kontext der Einführung von Hartz IV zwischen 1995 und 2003/2004 und dem Anstieg der Energiekosten und den erheblichen Preissteigerungen, im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine. Interessant für uns war, dass es sich bei den Hartz-IV Protesten, um eine relativ erfolgreiche Mobilisierung gegen den sozialen Abstieg und staatliche Gängelung handelte, während die Teuerungsproteste eher die Rest-Linke Bewegung auf die Strasse brachte, Einkommensarme fühlten sich kaum angesprochen. Im Buch werden aus verschiedenen politischen Sichtweisen die tatsächlichen und versuchten Kämpfe nicht nur dargestellt, sondern auch bewertet, die Unterschiede herausgearbeitet und Schwächen linker Protestkultur benannt. Zudem finden sich Hinweise auf die Bedingungen des Aufbegehrens armer Menschen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten des sozialen Widerstandes. Wir finden, dass im Sammelband einige inspirierende Überlegungen erkennbar sind, die bisher innerhalb der linken Bewegung wenig Beachtung gefunden haben, unserer Meinung nach aber für weitere, auch erfolgreiche Auseinandersetzungen von immensem Wert sind. Wir wünschen uns eine umfassendere Debatte darüber, wie Leiden an Armut und staatlicher Bevormundung, sowie der Lohnarbeit umschlagen kann in eine kollektive Praxis grundlegender Gesellschaftsveränderung. Dazu einige Überlegungen von uns: Die aktuellen Massendemonstrationen gegen Rechts und für Demokratie brandmarken auf der einen Seite rechtsextremistische Auswüchse, verdecken aber auf der anderen Seite eine gesellschaftliche Entwicklung hin zu verstärktem staatlichen Autoritarismus. So wurde dort kaum auf die Angriffe gegen Bürgergeldbezieher*innen reagiert, stattdessen überboten sich ein Grossteil der Parteien an Hetze gegen Bezieher*innen von Grundsicherung. Es ist Joachim Hirsch zuzustimmen, wenn er die herrschende Politik als demokratiebedrohend kennzeichnet. Auf verschiedene sozialstaatliche Interventionen bezogen ging es immer um eine Fortschreibung oder Anpassung an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse. Millionen von Betroffenen gerieten und geraten so in einen Strudel von Unsicherheit und Angst, der in Zeiten knapper Kassen mit öffentlichkeitswirksamer Diffamierung ergänzt wurde und wird. Umgedreht gestaltet sich die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, als eine zentrale Herrschaftstechnik gegenüber den Erwerbsarbeiter*innen. Sozialstaat als Instrument zur Herstellung disziplinierter Arbeitskraft, als leidschaffende Verwaltungsinstitution und armutsproduzierende Einrichtung, dennoch im Vergleich zu anderen Ländern hochgelobt, ist ein Teil ausgehöhlter sozialer Rechtsstaatlichkeit und findet allerdings kaum Interesse bei linken Diskussionsrunden. Und es geht noch weiter: Durch ein abgestuftes Netz von Unterstützungsleistungen, Versagungen und Begünstigungen unterschiedlicher Armutsgruppen entfaltet der Sozialstaat eine entsolidarisierende Wirkung. Vorurteile zwischen Bezieher*innen von Arbeitslosengeld, Bürgergeld, Wohngeld etc. haben hier ihren Ausgangspunkt. Gemeinsam mit dem Credo „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit“ werden Spannungen erzeugt, die einen gemeinsamen Widerstand verhindern, sie führen auch zu einer Erosion der Solidarität von Arbeitern zu Erwerbslosen und verfestigen sich in der Auffassung, nur wer etwas leistet, dem gebühre auch die Sozialunterstützung. Oder noch zugespitzter: Wer nicht (Lohn)arbeitet ist kein würdiger Teil der Gesellschaft (ausser bei denjenigen die gesundheitlich nicht mehr in der Lage sind). Dem gilt es entgegenzuwirken durch eine Auseinandersetzung mit welchen Argumentationen und Aktionsformen gegen solcherart Spaltungen vorgegangen werden kann und wie eine radikale linke Erörterung über Erwerbslosigkeit und Nicht-Arbeit aussehen könnte (Betroffene sofort in „gute“ Arbeit bringen oder den Schwerpunkt auf Existenzsicherung legen). Es sei darauf hingewiesen, dass fast zwei Drittel der erwachsenen Armen einer Arbeit nachgehen (wenn auch nicht alle in Vollzeit) oder in Rente/Pension sind. Rund 20 Prozent der Einkommensarmen sind Kinder. Des Weiteren fällt die Abwesenheit einer linken Debatte auf, wie der aktuellen Hetze gegen Erwerbslose (Bürgergeld als „leistungsloses Einkommen“) und Flüchtlinge (Bezahlkarte, Leistungskürzungen) begegnet werden kann. Die gegenwärtige Hetze gegen die Bürgergeldbezieher*innen und Geflüchtete muss zusammen gedacht werden. Beide fungieren als „Sündenböcke“ für die Unzufriedenheit von Menschen, was von Politik und Medien angestachelt wird. Gerade Niedriglöhner*innen und Beschäftigte werden gegen ein nicht vorhandenes Problem von Arbeitsverweigern aufgehetzt. Eine Ursache für die Wahl der AfD sind die Angst vor Abstieg und/oder Existenzsorgen. Rechte machen sich diese Ängste zu Nutze, um auf Stimmenfang zu gehen. Wenn die radikale Linke keine Antworten auf diese Zukunftsängste findet, werden die Rechten nicht zu stoppen sein. Trotz Anspruchs der radikalen Linken, sich am Alltag armer Menschen zu orientieren, sieht die Praxis oft anders aus. Dies hat auch etwas damit zu tun, dass Betroffene andere, Linken eher suspekte Diskurse nutzen, und dass sie eine eigene Widerstandspraxis entwickelt haben, die quer zum herkömmlichen Verständnis des Organisierens und Demonstrierens steht. Aus einer Ahnung über die Rechtmässigkeiten auf ein gesichertes Einkommen (auch ohne Lohnarbeit) findet der dort vorhandene Zorn seinen Ausdruck in einer Art Unterwanderung sozialstaatlicher Armutspolitik, mit dem Ziel, das erdrückende Elend zu mildern und der Diskriminierung auf dem Amt entgegen zu treten. Dies zu erkennen und mitzutragen, könnte den direkten Zugang zur Armutsklasse öffnen. In den letzten Jahren hat es dazu von den Linken wenig positiven Beistand gegeben. Dabei wäre ein zentraler Aspekt, die individuellen Resistenzen der Betroffenen zu unterstützen und weiterzugeben (als kollektive Praxis), um gleichzeitig den erwerbsarbeitsspezifischen Leistungsgedanken anzugreifen, die Wertigkeit des Menschen als unabhängig von Lohnarbeit zu bestimmen und damit zumindest ansatzweise die Kluft zwischen arbeitenden und nicht arbeitenden Menschen einzuebnen. Forderungen wie eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich und die Diskussion über ein Existenzgeld/bedingungsloses Grundeinkommen sowie über die Art und Weise der gesellschaftlichen Anerkennung von Tätigkeiten ausserhalb der Erwerbsarbeit können hilfreich sein. Aber auch innerhalb der Arbeiterbewegung findet sich eine disparate Widerstandslogik, die sich am Arbeiter-Leid eines ausbeutungsorientierten Arbeitsprozesses festmachen lässt. Je länger deren Leben von körperlicher Schädigung, Erschöpfung und Isolation bestimmt wird, desto grösser wirkt sich dies auf das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer*innen aus. Die unterschiedlichen Leiderfahrungen spaltet die Arbeiterklasse in zwei Segmente, ein gefestigtes und ein gebrochenes Proletariat (so Slave Cubela im Sammelband). Ersteres repräsentiert den bekannten Arbeiter-Widerstand (Organisieren/Kämpfen), während Letztere eher resignieren, aber nicht unbedingt dauerhaft politisch passiv sind. Bei ihnen können sich Wut und Zorn in einer gebrochenen Widerstandslogik zeigen. Sie suchen keine Mehrheiten, sind eruptiv und kennen sich (wenn es denn notwendig ist) bei der Sabotage an Maschinen oder in der eigenen Arbeitszeitverkürzung bestens aus. Nicht auszumalen was passieren würde, wenn der offene und versteckte Widerstand zusammenwirken würde! Solange allerdings das Leiden und die Angst der Betroffenen (dies gilt für Arbeiter*innen genauso wir für Erwerbslose) grösser sind als die Einsicht in die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung, reproduzieren sich die Wunden des kapitalistischen Arbeits- und Lebensprozesses tagtäglich. Die kurzen Momente eines annähernd massenhaften Aufbegehrens von Erwerbslosen liegen schon zwanzig Jahre zurück. Obwohl damals viele Linke ebenfalls erwerbslos waren, hat es kein kontinuierlich radikales Eingreifen in die Erwerbslosenbewegung gegeben. Eher wurde der Zeitraum der eigenen Erwerbslosigkeit genutzt, mit Hilfe staatlicher Unterstützung, in anderen politischen Feldern aktiv zu sein. Grosse Teile der Erwerbslosenbewegung sind mittlerweile, ob gewollt oder ungewollt, Teil sozialstaatlicher Formierung, die Erwerbslosenbewegung hat kaum noch eine politische Relevanz. Offensichtlich hat es gesellschaftliche Veränderungen gegeben, die innerhalb der Linken kaum analysiert sind. Etwa, ob sich mit der Umbenennung von Hartz IV zu Bürgergeld real etwas verändert hat und ob wir es mit einer neuen Sozialstaatlichkeit zu tun haben, auf die wir angemessen reagieren müssen. In diesem Zusammenhang wäre auch zu überprüfen, inwieweit sich, verglichen mit den 80er Jahren, die soziale Zusammensetzung der industriellen Reservearmee und der von Armut betroffenen Bevölkerung verändert hat. Ausserdem ist das Spektrum abhängiger Arbeiten vielfältiger geworden, unentgeltliche, aber verwertbare Tätigkeiten haben zugenommen, prekäres Arbeiten wird zum Standard, die simple Gegenüberstellung lohnerwerbstätig versus erwerbslos vereinfacht viel zu sehr. Daraus ergäbe sich unter Umständen eine Neuausrichtung unserer Konzeptionen (Bündnispolitik etc.) bezüglich Beratung, sozialer Zusammenkünfte und politischer Arbeit. Und: Ist es noch unsere gemeinsame Positionsbestimmung, dass der Sozialstaat Teil einer arbeitsorientierten, ausgrenzenden kapitalistischen Gesellschaft ist, dass dieser Sozialstaat nicht in der Lage ist Armut aufzuheben, dass Akkumulation privaten Reichtums Armut produziert und dass wir für eine andere, nichtkapitalistische Gesellschaft einstehen? Und schliesslich: welche Klasse bietet Hoffnung auf Rebellion und radikale Veränderung, formieren sich möglicherweise neue soziale Zusammensetzungen von Armen, prekär Beschäftigten und Teilen der traditionellen Arbeiterklasse mit einer eigenständigen Art des politischen Auftretens? Oder gibt es noch ganz andere Überraschungen? Wir wissen wenig darüber, wie arme Leute jenseits ihrer eigenen proletarischen Existenzsituation weltpolitische Lagen einschätzen und verarbeiten. Die gesellschaftliche Linke zieht als Reaktion auf die Zunahme von Krisen ihre eigenen Kreise immer enger. Selbst für ein grosses Bündnisthema wie Frieden und Antimilitarismus will man zuweilen nur die eigene Szene mobilisieren. Gerade arme Menschen sind in einem Klima von Kriegstüchtigkeit und Remilitarisierung besonders betroffen: Werbekampagnen der Armee könnten sie als Rekrutierungsmilieu ausmachen, und generell: „Kanonen statt Butter“ trifft immer die unteren Klassen. Eine Linke, die vornehmlich bemüht ist, die eigene vermeintlich korrekte Szene zu mobilisieren und ja nicht "rechtsoffen" sein will, ist darauf überhaupt nicht vorbereitet. In den Anti-Coronalockdown-Aufmärschen fanden sich auf jeden Fall neben abgesicherten und gut verdienenden Selbständigen und Akademiker*innen auch etliche Prekäre wieder. Auch diverse Friedensaufmärsche ziehen Menschen in proletarischer Existenzsituation an, womit die Friedensfrage weit weniger „bürgerlich“ dominiert ist als in den 80er Jahren. Die Armen in diffusem Umfeld sollten gerade von einer radikalen Linken angesprochen, nicht abgestossen werden. Neben diesen offensichtlichen Problemen und Unklarheiten liegen jedoch schon einige positive Ansätze vor: So arbeitet das Bildungswerk TIE (Transnationals Information Exchange) über ein Gesundheitsmapping mit dem u.a. die gesundheitlichen Beanspruchungen durch die Markierung eines Silhouettenkörpers als gemeinsame Belastung aller Beschäftigten gekennzeichnet werden. Diese Form des kollektiven Verständnisses wird dann in Bezug auf den Alltag und der Analyse des jeweiligen Arbeitsplatzes weitergeführt, um in einen gemeinsam zu erarbeitetenden Forderungskatalog und Möglichkeiten der Umsetzung im jeweiligen Betrieb zu münden. Der Mapping-Ansatz hat sich z.B. in der Textilbranche national, wie international bewährt. Einen ähnlichen Versuch startete die Gruppe prekärlab in Frankfurt. In einem, an TIE angelehnten, Armutsworkshop wurden die Themen aus der Sicht der Betroffenen bewertet und entwickelt, deren Wissen genutzt um gemeinsam aufzuzeigen, dass Armut nicht als individuelles, sondern als gesellschaftliches Problem zu sehen ist. Damit gelang zumindest teilweise die Vereinzelung zu durchbrechen, gemeinsames Bewusstsein zu fördern und Handlungsfähigkeit aufzubauen. In diesem Zusammenhang wären auch Kampagnen überlegenswert, wie z.B. in Form eines massenweisen Aufrufes an Einkommensarmen die ihnen zustehenden Sozialleistungen zu beantragen, denn 60 Prozent aller Rentnerinnen und Rentner realisieren ihren Anspruch auf Grundsicherung im Alter nicht, mehr als ein Drittel aller Anspruchsberechtigten verzichten auf Bürgergeld und beim Kinderzuschlag sind es sogar zwei Drittel. Ort der Realisierung dieser Vorschläge können bestehende oder zu gründende Sozial-/Workerzentren sein, die neben der Beratung, der politischen Initiativen auch ein niedrigschwelliger Anlaufpunkt für Betroffene aus der jeweiligen Stadt darstellen. Erste Erfahrungen hierzu gibt es bereits! Es würde uns freuen, wenn es auf Grundlage des Buches und der daraus abgeleiteten Überlegungen eine breitere Erörterung innerhalb der linken Bewegung stattfinden würde. Damit soll gleichzeitig auch auf den sozialen Widerstand gegen das drohende Hartz IV-Regime vor über zwanzig Jahren hingewiesen werden, um deutlich zu machen, was passieren könnte, wenn arme Leute sich nicht mehr fügen!
Peter Nowak
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