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Dennoch bleibt etwas Entscheidendes dabei ungeklärt. Das schließliche Ergebnis dieses Prozesses der Gewalt im Leben ganzer Generationen von Menschen mag "plausibel" sein; auf welche Weise dieser kollektive, unentrinnbare Prozess auf die Menschen wirkt, insbesondere dass er offenbar mindestens zu einer Akzeptanz der Macht des Kapitals führen kann, bleibt bei ihnen jedoch letztlich im Dunkeln.

Ähnlich unbefriedigend bleibt auch ein noch so detailliertes Studium der weiteren Geschichte des Kapitalismus als einer Geschichte der kämpfenden Klassen mit Siegen und auch mit Niederlagen. Das gilt benso für die obigen kurzen Bemerkungen zur foristischen postfordistischen Entwicklung. Fraglich erscheint darüber hinaus, ob angesichts der Verstrickung in das tödliche Paradigma des Kapitals letzulich überhaupt von "Siegen" die Rede sein kann.

Zu einem tieferen Verständnis der scheinbaren "Selbstreproduktion" des Kapitals und der zunehmenden Verstrickung der Menschen in dessen Paradigma können m.E. die Ergebnissé der modernen Traumaforschung helfen. Wir wissen heute, dass schwere traumatisierende Agression von den Betroffenen oft nur durch die identifaktorische Annahme der Unterwerfung unter die überwältigend Macht psychische bewältigt werden kann. Über die Wirkung traumatisierender Gewalteinwirkung auf die unmittelbar Betroffenen wie auf ide Nachkommen hat insbesondere Dina Wardi eindrucksvolle Forschungsergebnisse vorgelegt, die sie aus der Aufarbeitung der persönlichen Geschichten von Überlebenden des Holcaust und deren Nachkommen gewonnen hat (Wardi 1997: 63 u. passim).

Die neueren Forschungen beziehen sich auf das von Ferenczi 1932 in die psycho-analytische Theorie eingeführte Konzept „Identifikation mit dem Aggressor“ (Ferenczi 1933; Gruen 2000). Dieses Konzept wurde ursprünglich zur Erklärung der häufig gemachten Beobachtung entwickelt, dass Kinder als Opfer von sexuellem Missbrauch, physischer Misshandlung und schließlich auch psychischem Terror durch die Eltern oder andere Erwachsene, von denen sie abhängig sind, diesen Terror verinnerlichen und sich selbst mit dem Aggressor identifizieren. Die Macht des Angreifers ist in einem solchen Fall so überwältigend, dass an Auflehnung oder auch nur Ausweichen nicht einmal zu denken ist: „Die Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können“ (Ferenczi 1933: 308). In der unmittelbar lebensbedrohlich erscheinenden Situation ist die Identifikation mit dem Aggressor damit eine Überlebensstrategie (ebd.: 155). Auf diese Weise gelingt es, die nicht zu bewältigende Angst geradezu in Geborgenheit umkippen zu lassen (Gruen 1997: 96ff.). Was in einer konkreten Einzelsituation das Überleben sichern hilft, kann als Strategie gegen fortdauernde Aggression jedoch zu einem Verhaltensmuster werden, mit dem sich der betreffende Mensch durch Ich-Zerstörung tendenziell zum lebenslangen Opfer macht. Das Verhaltensmuster verhindert nachhaltig wirkliche Lebendigkeit indem es alle Alternativen systematisch ausblendet. Durch die Identifikation findet eine Abtrennung vom Selbst bzw. ein „Verrat am Selbst“ (Gruen 1986) statt; Judith Herman spricht auch vom „zerstörten Selbst“ (Herman 1993: 79 ff.). Die Introjektion der fremden Identität führt dazu, dass die fremden Bedürfnisse schließlich für die ureigensten gehalten werden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Bedürfnissen wird so verhindert. Das permanente Niederhalten der Angst vor dem Sich-regen des Selbst ist mit einem hohen Verbrauch an Lebensenergie verbunden. Grundsätzlich identische Folgen können auch bei Traumata von Erwachsenen eintreten. 20  Bei ihnen ist allerdings zunächst mit einer „konsolidierten Persönlichkeit“ zu rechnen. Ein eigenes Wertesystem und nicht mehr primär die vorbehaltlose Liebe von Seiten bestimmter Bezugspersonen sichern normalerweise die individuelle  Identität. Wenn die erlittene und erlebte Gewalt allerdings so überwältigend ist, dass Gegenwehr wie Weglaufen gänzlich ausgeschlossen erscheinen, dann kann auch der erwachsene Mensch oft nur noch mit einer „Bewusstseinsveränderung“ (ebd.: 65 ff.) reagieren. Wolfgang Schmidbauer hat dafür den aus der somatischen Medizin bekannten Begriff der „Zentralisation“ auf die psychischen Vorgänge übertragen (Schmidbauer 1998, passim). Durch Zentralisation aller verfügbaren psychischen Kräfte auf das unmittelbare Überleben tritt psychisch, aber auch mit physischen Entsprechungen, eine "Erstarrung" oder „Konstriktion“ (Herman 1993: 65 ff.) ein.

Jeder Prozess von Lebendigkeit, d. h. jedes unkontrollierte, unkontrollierbare Gefühl wird dann angstvoll und als bedrohlich erlebt und als Folge des Versuchs der Kontrolle möglicherweise lebenslang verdrängt. „Posttraumatisch führt diese Zentralisation zu seelischen Verhärtungen – Abwehrstrukturen, die verhindern sollen, dass die schmerzhaften Erlebnisse das Ich erneut überschwemmen. Verdrängung, Schweigen, gereizt missmutige Haltung und allgemeiner sozialer Rückzug kennzeichnen den depressiven Pol dieser Abwehr, Idealisierung von Krieg und Kampf, hemmungslose Selbstüberschätzung, Rücksichtslosigkeit und Größenphantasie den manischen Pol“ (Schmidbauer 1998: 71). Aus Angst vor den eigenen Gefühlen werden die „natürlichen Trauerreaktionen so lange bagatellisiert und unterdrückt [...],  bis sie [die depressiv Erkrankten] durch diese Schonungslosigkeit erschöpft und ausgebrannt sind“ (ebd.: 72). 21 Zentral ist hier die Angst, obgleich sie als Folge der Verdrängung eben nicht bewusst erlebt wird. Es entsteht letztlich eine „Angst vor der Angst“, ein Teufelskreis, der immer größere Lebensenergien in der Verdrängung und Kontrolle bindet.

Bei dem Versuch, die hier kurz referierten Wirkungen auf traumatische Erfahrungen aus modernen Kriegen oder anderen massenhaft wirkenden Ereignissen oder  aus der Gewalt und dem Elend des Industrialisierungsprozesses zu übertragen, tritt hinsichtlich der beobachteten Identifikation mit dem Aggressor ein wichtiger Aspekt hinzu: An die Stelle des persönlichen und persönlich identifizierbaren Aggressors oder zusätzlich zu ihm tritt dann eine anonyme überwältigende Macht, deren „Logik“ für das Opfer überhaupt nicht zu durchschauen ist. Das ursprüngliche Werte- und Normensystem kann gänzlich außer Kraft gesetzt werden, der folgende Zustand ist der der Haltlosigkeit und Trostlosigkeit. Das wirkt noch extrem verschärfend auf das posttraumatische Syndrom (ebd.: 84). Die „Identifikation mit dem Aggressor“ wird dann eher zu einer Identifikation mit dem System, das als siegreich aus der Situation hervorgegangen ist, und eine Introjektion von dessen Paradigma. Oder, in Anlehnung an Schmidbauer: Durch die Identifikation mit dem anonymen Aggressor verliert das Opfer seine ursprüngliche Identität, die sich gewissermaßen als „wertlos erwiesen“ hat, „gewinnt aber als Lohn der Unterwerfung die Illusion der Allmacht, die dem Eintauchen in eine totale Institution entspringt“ (ebd.: 89).

Was nach so tiefen Niederlagen zurückbleibt, ist die Angst vor der eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit und damit die existenziell empfundene Notwendigkeit, diese zu verdrängen. Damit müssen aber auch das eigene Fühlen, Denken und Handeln verdrängt werden, die der Grund für die Niederlage waren. Dies führt kollektiv (gesellschaftlich) oft zur Verachtung und Aggressivität gegen die (schwächere) Minderheit derjenigen, die zu recht oder zu unrecht mit jenem Fühlen, Denken und Handeln in Verbindung gebracht wird. Dazu gehört die, teils offene, teils verdeckte Aggression gegen Kinder, Alte, Behinderte usw. und nicht zuletzt rassistische Aggression.

Diese Trennung vom Selbst, von den eigenen unerträglichen Gefühlen 22 , entspricht gesellschaftlich der Trennung (oder Entfremdung) von der eigenen Geschichte, es kommt zu einer kollektiven Verdrängung. Dieses ist nicht nur Folge der Herausbildung des Kapitalismus, sondern eine wesentliche Voraussetzung für sein Funktionieren. Ist der Glaube an eine Alternative grundlegend zerstört, so entwickeln die Individuen nach Marx ein Interesse an der Beteiligung an der kapitalistischen Gesellschaft in dem Maße, wie ihnen das Sich-Einlassen auf die Konkurrenz als Voraussetzung ihres Überlebens erscheint. D. h., sie entwickeln dann ein „Privatinteresse“, das „nur innerhalb der von der Gesellschaft gesetzten Bedingungen und den von ihr gegebenen Mitteln erreicht werden kann; also an die Reproduktion dieser Bedingungen und Mittel gebunden ist“ (Marx 1939: 74). Dies entspricht der oben erwähnten Ausblendung aller Alternativen aus dem Bewusstsein. Der tatsächlich immer wieder auftauchende Widerspruch der lebendigen Menschen zum System reduziert sich dann darauf, entweder zwanghaft nach Reformen innerhalb des Systems zu suchen oder aber sich in eine blinde Aggressivität zu flüchten.

Erklärlich wäre auf die beschriebene Weise die tiefe Formung einer Gesellschaft, wenn eine ganze Generation unmittelbar von einer traumatischen Erfahrung betroffen wurde. Aber selbst wenn wir die Wahrscheinlichkeit einer lebenslangen Auswirkung der beschriebenen introjektiven Identifikation annehmen, so würde damit letztlich nur ein zeitlich begrenzter Effekt erklärbar, der mit der ursprünglich betroffenen Generation langsam aussterben müsste. Und in der Tat gehen die meisten Theorien der Moderne davon aus, dass das Stadium des Frühindustrialismus mit dem modernen Sozialstaat endgültig überwunden sei.

Da aber „posttraumatische Störungen“, wie sie in der offiziellen klinischen Terminologie heißen, wesentlich Kommunikationsstörungen sind, müssen sie sich auch auf die nachfolgenden Generationen auswirken. Da weiterhin gilt, dass Sozialisation ein kumulativer Prozess ist, in dem alle Einwirkungen bleibende „Eindrücke“ hinterlassen – ob bewusst oder unbewusst –, ist die frühkindliche Entwicklungsphase von zentraler Bedeutung. In der Kindheit entstandene verfestigte Angst kann so zum bestimmenden Moment eines ganzen Lebens werden. Und diese tief sitzende Angst ist es, die weitergegeben wird. Auf diese Weise können „die Eltern [...] zum Trauma für ihre Kinder“ werden (Schmidbauer 1998: 288f.; vgl. aber auch 131f.).

Die Tradierung der Traumata erfolgt jedoch keineswegs nur je individuell von den Eltern oder den gesellschaftlichen Institutionen wie Schule usw. direkt auf die Kinder. Es ist nahe liegend anzunehmen, dass die verbreitete Bereitschaft zur Gewalt genau so eine Spätfolge von Jahrhunderten der Traumatisierung ist, wie die scheinbare Normalität der Anpassung an die Fabrikarbeit und die anderen Zumutungen der Arbeitsgesellschaft. Der schon erwähnte millionenfache Ausbruch dieser latenten Gewalt in diesem gewissermaßen „langen“ 20. Jahrhundert ist seinerseits Glied in einer Kette von Krieg und Terror, die sowohl kollektiv, als auch bis hinein in die einzelnen Familien wirkt. 23 Dieses kann durchaus als indirekte Tradierung interpretiert werden. Auf diese Weise werden die Traumatisierung und die posttraumatische Angst immer wieder erneuert, und das ist es, was in den Individuen und mit ihnen in den Organisationen und der Gesellschaft insgesamt die Voraussetzungen reproduziert, die dann als „Selbstreproduktion“ des Kapitals im zwanzigsten und offenbar auch im einundzwanzigsten Jahrhundert erscheinen.

Was als Traumatisierung tradiert wird, tritt bei den Individuen in verschiedenen Ausprägungen von Sucht, einer psychosomatischen Krankheit, auf. Nach den obigen Ausführungen ist offensichtlich, dass Krankheit hier nicht eine Abweichung von „Normalität“ bezeichnet, da der Zustand der Sucht die Gesellschaft insgesamt charakterisiert (Heide 2003: 49; vgl. auch Niebling 1997). Unter Sucht ist ein Zustand zu verstehen, der als Zwang, Drang oder Getriebensein erlebt wird bei der Suche, den Schmerz der Realität nicht zu spüren (Wilson Schaef 1998: 183). 24 So ist Sucht als Mangel an Autonomie beschreibbar. Ausführlicher bin ich auf das Problem der Sucht, insbesondere der Arbeitssucht, an anderer Stelle eingegangen (vgl. z. B. Heide 2003). Wichtig ist im hier diskutierten Zusammen-hang, dass es offenbar langfristig zu einer Verschiebung zwischen verschiedenen Suchtausprägungen gekommen ist. Von besonderer Bedeutung für das Verständnis postfordistischer Entwicklung ist dabei die Unterscheidung zwischen „neurose-bestimmten“ und „depressionsbestimmten“ Suchtformen. Neurosen sind charakteristische Folgen der Verinnerlichung des Zwangs, etwas im Grunde gegen seinen Willen zu tun, und korrespondieren mit der Entwicklung des Kapitalismus bis hin zur fordistischen Phase. In den letzten Jahrzehnten dominieren mehr und mehr die depressiven Erkrankungen (Ehrenberg 2004) und damit die Leistungs-süchte bis hin zur Arbeitssucht (Heide 2003).

Das ist unschwer im Zusammenhang mit der (Selbst-)Anforderung zur Selbststeuerung und Allverantwortlichkeit zu interpretieren, die die postfordistische Phase nicht nur im Arbeitsprozess, sondern im gesamten gesellschaftlichen Prozess charakterisieren. 25 Die Folgen werden sichtbar im „Burn-out“ und im „erschöpften Selbst“ (Ehrenberg 2004). 26  Sie sind Ausdruck für das notwendige Scheitern des postmodernen Menschen an der Grenzenlosigkeit der selbst gesetzten Ansprüche an sich selbst als Folge der Verinnerlichung des (Kapital-)Prinzips der Grenzenlosigkeit.

Schlussfolgerungen:

Nach den hier vorgetragenen Überlegungen kann unmittelbar aus der „Subjektivierung der Arbeit“ keine neue Autonomie der arbeitenden Individuen hergeleitet werden, die ein irgendwie geartetes neues Emanzipationspotenzial darstellen könnte. Wenn es nämlich Angst ist, die uns an das Kapital bindet, liegt genau darin das entscheidende Autonomiedefizit. Dann ist das Durchbrechen der Spirale der Angst der entscheidende erste Schritt, den die neuen sozialen Bewegungen bewusst angehen müssen. Dieser zentrale Aspekt ist in der Geschichte der Arbeiterbewegung und anderer sozialer Bewegungen immer wieder vernachlässigt worden. Das ist mitverantwortlich für Bürokratisierung auf der einen und Zersplitterung auf der anderen Seite. Es ist ebenso mitverantwortlich dafür, dass Widerstand oft erst dann beginnt und nur solange vorhält, wie die Wut, die ja eine Reaktion auf etwas als ungerecht Empfundenes ist, größer ist als die Angst. Psychoanalytisch argumentiert: die Wut wird – ähnlich wie ein Suchtmittel – vor die Angst geschoben, so dass diese nicht mehr gespürt wird. Daher: Je größer die tatsächliche Angst, desto riesiger muss die Wut sein, um den Kampf zur Veränderung aufnehmen zu können. Die Alternative scheint dann nur der Rückfall in die Lethargie zu sein. Daraus kann dann leicht der Schluss gezogen werden, dass in einer solchen Lage der Dinge für jeden neuen Anlauf zum Kampf, Streik usw. die Wut nur wieder stark genug geschürt werden, dass das „Ungerechte“

an den zu bekämpfenden Verhältnissen klar gemacht werden müsse, um aus der ansonsten herrschenden Lethargie heraus zu kommen. Zu erkennen, dass Wut eine Reaktion auf Ungerechtigkeit ist, ist ganz entscheidend. Wenn es nämlich dabei bleibt, d.h. diese Wut und die hinter ihr stehende Angst nicht bearbeitet werden, dann kann dabei nur zweierlei herauskommen: entweder „Sieg“, der im aggressiven Sinn zerstörerisch ist, oder „Niederlage“ mit Frustration und Depression und erneuter und weiterer Anpassung, was im Opfersinn zerstörerisch ist. Und das wäre genau das Resultat, das uns wegen seiner Unerträglichkeit weiter an das Kapital bindet. Hiermit ist schon logisch die Richtung des Kampfes auf Be-seitigung von Ungerechtigkeit innerhalb des Systems angelegt.

In der aktuellen Entwicklungsphase mit ihrem Prozess der „Verselbstständigung“ nimmt der psychische Druck nicht nur am Arbeitsplatz, sondern in der Gesellschaft insgesamt zu. Ein wachsender Teil der Menschen wird faktisch ausgegrenzt. 27 Angst verstärkt sich sichtbar. Gleichzeitig wächst – jenseits von Analysen – das Gefühl, dass die Zeit reif ist für einen qualitativen Sprung im Widerstand.

Im historischen Prozess hat sich der Begriff der Solidarität, der noch aus den alten korporativistischen Zusammenhängen stammte, grundlegend gewandelt. Hatte die alte Bedeutung noch schlicht „Stärke durch innere Einigkeit“ (von lat. solidus, fest, stark) ausgedrückt, die durch eine streng auf die Mitglieder beschränkte Gegenseitigkeit und gleichzeitig Abgrenzung gegen „außen“ charakterisiert war, so wurde sie in der Moderne erweitert. Im christlichen (und philanthropischen) Sinn konnte Solidarität fast zum Synonym für Barmherzigkeit (Selbstlosigkeit) werden. Je mehr sich in der Arbeiterbewegung ein die kapitalistische Gesellschaft transzendierendes Bewusstsein entwickelte, desto klarer wurde der Begriff auf die umfassende Zusammengehörigkeit aller Erniedrigten ausgeweitet und das frühere „Außen“ bezog sich dann eigentlich nur auf die Unterdrücker, konnte aber bei Bedarf auch alle diejenigen betreffen, die auf Grund ihrer Klassenzugehörigkeit als „konservativ“ und „fortschrittsfeindlich“ eingeschätzt wurden. Letzteres bedeutet eine Kopplung an einen strukturalistisch aufgefassten Interessenbegriff, wie er zu den Interessen vertretenden bürokratischen Großorganisationen im Fordismus (und im Realsozialismus) passt.

Heute steht ein neuer Schritt der Weiterentwicklung des Begriffs der Solidarität an. Er fällt mit dem Übergang vom Interesse zum Bedürfnis zusammen. Solange sich die Menschen auf die Wahrnehmung ihres Interesses glaubten beschränken zu können, haben sie auf den Kontakt zu ihren Gefühlen verzichtet, konnten sie ihr erschöpftes Selbst nicht spüren. Dies lässt sich nicht fortsetzen. Der Kontakt zu den Gefühlen und damit zu den Bedürfnissen ist lebensnotwendig . Um die eigenen Bedürfnisse kennen zu lernen, ist eine Offenheit erforderlich, sich mit der tief verdrängten Angst auseinanderzusetzen. Dies ist ein Lernprozess, in dessen Verlauf sich die Gründe für Angst real verringern.

Es gilt, eine neue Art von kooperativer Organisation zu entwickeln, die Offenheit ermöglicht und die gleichzeitig selbst ständig erneuertes Produkt dieser Offenheit ist. Diese Offenheit drückt sich dann in den Programmen aus, in den internen und öffentlichen Diskussionen, in der Ausformung der Organisation selbst und eben konstitutiv im Umgang miteinander. Nicht zufällig kennzeichnet viele der neuen widerständigen Bewegungen, dass sie mit dem ausdrücklichen Formulieren der eigenen Angst beginnen...